Abonji, Melinda Nadj
behauptet, du küsst göttlich, ich will das
jetzt haben, mach die Augen zu — geh weg —, Nomi, wo bist du?, los, ab in den
Keller, das Konzert hat begonnen, Mark, der mich stützt, weil ich keine Beine
mehr habe, keine Beine?, du spinnst, sagt Mark, ja, ich bin beinlos; los, komm
schon, vergiss deine Beine, ruft Mark — aber was machen die Polizisten da?
Mark, warum sind wir umzingelt, hat das mit meinen Beinen zu tun? Ildi, da sind
keine Bullen, Leute wie du und ich um uns, Ildi, pass auf, die Stufen! Nomi, wo
ist sie? Unten, im Keller, antwortet Mark, los, mach schon!, der Hubstapler,
sage ich, und warum sagst du mir, da sind keine Polizisten, die Hunde sind
überall, siehst du sie nicht? Mark, der mich packt, die Treppe runterträgt,
habt ihr geheiratet? Augen, Münder, in denen Blut schwimmt, warum sind alle
verletzt?, und Benno fliegt über uns, Sarajevo, ruft er, versteht ihr?
Sarajevo! Und ich drehe meinen Kopf in Marks Arm, ich will keine Hunde mehr
sehen, keine blutenden Münder, und da, wo früher die Beine waren, schlägt das
Herz, kann ein Herz da schlagen, wo sonst Beine sind? Mark, der mich in ein
Loch hineinwerfen will, ich, die sich mit Händen und Füssen wehren muss, schreie
ihn an, damit er es nicht tut; ein Sofa, sagt Mark, verdammt, Ildi, das ist ein
Sofa, ich kann dich nicht mehr tragen! Und wenn du mich ins Loch wirfst, lande
ich auf dem Müllberg, Mark, ich hab's gewusst, deine Augen haben mir's
verraten!, und ich befreie mich, werfe mich auf den Boden, Mark, warum
trampelst du mich tot mit deinen Schreien? Ich bin's nicht, sagt Mark, die Band
schreit — was?, welche Band?, warum kann ich nicht auf dem Boden liegen, warum
rast der Boden in mich hinein? Du spürst die Vibration, sagt Mark, hör mal zu,
ich hol dir eine Flasche Wasser, du musst trinken, du bist auf einem ziemlich
schlechten Trip, der muss wieder raus aus dir.
Irgendwann waren wir dann auf
dem Klo, Nomi, die mir den Kopf duscht, Nomi, die auf mich einredet, mir die
Wangen streichelt, den Kopf, hallo, siehst du wieder klar?, klar, Nomi, die
sagt, Rum und Gras vertragen sich nicht, blutige Anfängerin, sage ich und hebe
meinen Kopf, sehe mich im Spiegel, Nomi, die ihr Gesicht an meine Wange drückt,
wir sehen uns ähnlich, sagt sie, die Lippen, die Augen, unsere Gesichtsfarbe,
nur die Haare nicht; erinnerst du dich an Grossmutter, wie sie sagte, dass
jeder Mensch mehr als zwei Gesichter hat? Wie könnte ich das vergessen,
antwortet Nomi.
Ich möchte nur ein Gesicht
haben, sage ich.
Nomi, die lange wartet, mich
anschaut und dann sagt, jeder Mensch hat verschiedene Gesichter, es ist
überlebensnotwendig, verschiedene Gesichter zu haben.
Ich kann nicht mehr arbeiten
im Mondial, und ich kann nicht mehr hierher kommen, es ist —
Ildi, du bist heute schlecht
drauf, komm schon, nichts Grundsätzliches jetzt, wir machen uns ein bisschen
frisch, ein bisschen Schminke, und dann gehen wir tanzen, meine geliebte
Schwester, mach dich nicht so schwer.
Und Nomi und ich, wir haben
getanzt, mit Dave und Mark, wir haben uns verwickelt, uns am Hals geküsst, und
ich habe mich fallen lassen, habe meinen Mund an Marks Schulter sich festsaugen
lassen, meine Augen, die zufielen vor Müdigkeit und Erleichterung, deine Haut
ist so weich wie Schnee, flüsterte Mark mir ins Ohr (und so kalt?), vielleicht
kann man an einem Tag etwas beschliessen, dachte ich, man kann beschliessen,
anders zu werden, und dann kommt der nächste Tag, und man merkt, wie spielend
leicht es geht, und Mark hat meine Schulter nass geküsst, seine Finger haben
meine Brüste im Takt berührt, Mark und ich, wir tanzten durch die Stuhlreihen
des Mondial, die Bilder, aus denen Farbe tropfte, es sieht schön aus, sagte ich
flüsternd in Marks Ohr, das Gelb, das Rot, das Blau, die Farbtropfen an den
Wänden, auf den gepolsterten Stühlen, und das Tapetenmuster zitterte, durch
alles ging ein leichtes Beben, die beiden Vasen, die im Zeitlupentempo
umfielen, es sieht wirklich schön aus, die Scherben, sagte ich zu Mark, die
verschmierten Landschaftsbilder, und wir drehten uns mit verschlungenen Armen
und Beinen weiter, bis Nomi uns aus unserem Wachtraum weckte, der Keller, der
schon fast leer war, die Musik, die nur noch ganz leise aus den Boxen spielte.
Mark und Dave, die uns zum
Bahnhof begleiteten, mit uns auf den ersten Zug warteten, und wir umarmten uns,
Nomi Dave, ich Mark, wann sehen wir uns? Bald, und ich erinnere mich, dass mir
der Morgen kalt vorkam, und ich sah
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