Canard Saigon (German Edition)
Prolog
Wien, Freitag, 15. Februar 1946
Vor Einbruch der Dunkelheit zu Hause sein – das war eines seiner Gebote in diesen Tagen. Jetzt war es beinahe acht Uhr abends und stockfinster. Spät, viel später, als er geplant hatte. Er hastete mehr, als er ging, wohl wissend, dass er verdächtig erscheinen konnte. Ein angemessenes Tempo einzuhalten, fiel ihm schwer, am liebsten wäre er gerannt. Er war besorgt und beunruhigt. Gleichzeitig freute er sich über sein soeben ausgehandeltes Geschäft. Wie gern hätte er seinen Triumph in die abendlichen Straßen Wiens hinausgebrüllt. Seine Vernunft aber zügelte sein Temperament und mahnte ihn zur Vorsicht. Lass dich nicht erwischen, hämmerte es gebetsmühlenartig in Karl Wagners Kopf, lauf bloß in keine russische Kontrolle.
Den Kragen seines alten grauen Wintermantels aufgestellt, blickte er ständig wachsam um sich. Karl nutzte die Schatten der Gassen, die er wie seine Westentaschen kannte. Beim geringsten Anzeichen von Gefahr verschmolz er blitzschnell mit seiner Umgebung. Ob er sich in einen Hauseingang drückte oder sich hinter einem der zahlreichen Schutthaufen hinkauerte – Deckung fand er immer. Um diese Zeit waren kaum Menschen zu sehen. Nur vereinzelt tauchten Gestalten auf, huschten vorüber und verschwanden meist so schnell, wie sie erschienen waren. Die Frauen hatten sich längst in ihren Wohnungen verbarrikadiert, die Männer mieden die Straßen wegen der bitteren Kälte. Wien erlebte den strengsten Winter seit Jahren. Seit einigen Tagen fegte ein eisiger Wind durch die zerbombte Stadt, dessen Stärke sich stündlich steigerte. Teile von beschädigten Dächern wirbelten durch die Luft. Der Sturm trug Schornsteine ab, die mit Getöse auf den Boden krachten. In manchen Gebäuderuinen brachen ganze Wandteile in sich zusammen. Es schien, als hätte sich die Natur mit den Besatzern verbündet, um diese Stadt für ihr Mitwirken am Naziterror zu bestrafen.
Karl Wagner näherte sich dem Ende der Schmelzgasse und schaute vorsichtig um die Ecke. Auf der Straßenseite gegenüber erspähte er zwei russische Soldaten. Sie standen auf der rechten Seite der St. Josefskirche, direkt unter einer der neuen Straßenlaternen. Die Straßenbeleuchtung war erst vor wenigen Tagen instand gesetzt worden, und es schien, als wolle der Sturm ihre Tauglichkeit prüfen. Wild gestikulierend unterhielten sich die beiden Russen. Vermutlich waren sie betrunken und würden ihn nicht bemerken. Trotzdem wagte Karl es nicht, seinen Weg fortzusetzen. Dabei bräuchte er nur die breite Taborstraße überqueren, links an der Josefskirche vorbei und dann noch etwa 50 Meter weiter, und schon wäre er zu Hause. Karl schätzte die Erfolgsaussichten ab und entschied, zu warten. Das Risiko, erwischt zu werden, war zu hoch.
Aus Richtung Donaukanal näherten sich die gelben Scheinwerfer eines Fahrzeugs. Das konnte nur ein russischer Jeep sein. Karl bewegte sich vorsichtig ein Stück zurück und duckte sich in den nächsten Hauseingang. Jetzt musste er warten, bis der Weg frei war. Plötzlich spürte er das Gefühl von Panik. Er zwang sich zur Ruhe und überdachte seine Situation. Ich muss nur unbemerkt nach Hause kommen, dann ist alles gut, befand er.
Karl Wagner wohnte mit seiner Mutter in der Kleinen Sperlgasse, in einer kleinen Wohnung im obersten Stock eines dreigeschoßigen Gebäudes. Das Haus war schlicht und unauffällig, ohne architektonische Besonderheiten. Als die ersten alliierten Bomber über Wien aufgetaucht waren, war die Fassade mit grauer Schutzfarbe besprüht worden, um kein sichtbares Ziel für Luftangriffe abzugeben. Jetzt unterschied sich das Haus nicht von den anderen Gebäuden im 2. Gemeindebezirk. Außer der kaputten Eingangstür und einigen Einschusslöchern hatte das Gebäude den Krieg nahezu unversehrt überstanden. Ein Granattreffer hatte zwar ein ordentliches Loch ins Dach gerissen, aber keine tragenden Bauteile zerstört. Sie hatten Glück, denn das rechtwinkelig angebaute Nachbargebäude in der Lilienbrunngasse hatte wesentlich mehr abbekommen. Trotz des Elends für dessen Bewohner stellte sich die Beschädigung des Nachbarhauses für die Wagners als ein Geschenk des Himmels dar.
Die Nacht, in der das Nachbargebäude getroffen worden war, hatte Karl mit seiner Mutter und den übrigen Hausbewohnern im Keller verbracht. Bei Tagesanbruch war er auf den Dachboden ihres Hauses gestiegen. Eine Granate hatte zwischen ihrem Haus und dem Nachbarhaus eingeschlagen. Durch das Loch
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