Abraham Lincoln - Vampirjäger
Bücher erneut und versuchte Hinweise auf das 21. Jahrhundert darin zu finden. Kleine Risse in dem Gebilde. Aber da war nichts zu finden – zumindest nichts, was mir auf den ersten Blick aufgefallen wäre. Abgesehen davon nagte etwas an mir: Wenn dies nur ein Hobby-Schreibprojekt war, wozu dann die Liste mit Namen und Adressen? Warum hatte Henry mich gebeten, über die Tagebücher zu schreiben, anstatt sie neu zu schreiben? Ich tendierte doch dazu, ihn als irre abzutun. War es möglich? Glaubte er wirklich, diese zehn Notizbücher seien die … Nein, das konnte er nicht wirklich annehmen. Oder doch?
Ich konnte es kaum erwarten, meiner Frau davon zu erzählen. Konnte es nicht erwarten, diesen blanken Irrsinn irgendjemandem mitzuteilen. Gemessen an einer ganzen Reihe von Kleinstadtspinnern war dieser Typ wirklich die Krönung. Ich stand auf, raffte die Bücher und Briefe zusammen, drückte meine Zigarette mit dem Absatz aus und drehte mich um …
Etwas stand keine fünfzehn Zentimeter vor mir.
Ich schreckte zurück und stolperte dabei über den Klappstuhl. Beim Hinfallen schlug ich mir den Kopf an der Ecke des Schreibtisches an. Mein Blick verschwamm. Ich konnte das warme Blut schon durch mein Haar sickern spüren. Dieses Etwas beugte sich nun über mich. Seine Augen glichen zwei schwarzen Murmeln. Seine Haut einer durchscheinenden Collage aus pulsierenden blauen Adern. Und sein Mund … aus seinem Mund spitzten triefende, glasige Fänge.
Es war Henry.
»Ich werde dir nichts tun«, sagte er. »Ich will nur, dass du begreifst.«
Am Kragen zog er mich vom Boden hoch. Ich spürte, wie mir das Blut den Nacken hinabrann.
Ich verlor das Bewusstsein.
Schönen Tag noch. Bis zum nächsten Mal.
III
Man hat mich angewiesen, nicht ins Detail zu gehen, wohin mich Henry in dieser Nacht brachte oder was er mir zeigte. Es genügt, wenn ich sage, dass es mich körperlich krank machte. Nicht aufgrund irgendeines Grauens, dessen Zeuge ich geworden wäre, sondern aufgrund von Schuldgefühlen darüber, dass ich eingeweiht wurde, ob ich es wollte oder nicht.
Ich war lediglich eine knappe Stunde bei ihm, doch in dieser kurzen Zeit brach mein bisheriges Verständnis von der Welt in sich zusammen. Wie ich zuvor auch über den Tod, den Raum und Gott gedacht hatte … alles änderte sich nunmehr unwiderruflich. In dieser kurzen Zeit wurde mir eine Sache, die mir nur eine Stunde zuvor noch völlig verrückt erschienen wäre, unmissverständlich klar:
Vampire existieren.
Eine Woche lang konnte ich nicht mehr schlafen, zuerst vor Entsetzen, dann vor Aufregung. Jeden Abend blieb ich nach Geschäftsschluss noch lange im Laden und brütete über Abraham Lincolns Tagebüchern und Briefen. Ich glich seine unglaublichen Behauptungen mit den harten »Fakten« anerkannter Biografien ab. Zeitliche Abläufe. Stammbäume. Ich machte mir bis in die frühen Morgenstunden Notizen.
Die ersten zwei Monate über machte sich meine Frau Sorgen. Dann wurde sie misstrauisch. Nach einem halben Jahr trennten wir uns. Ich fürchtete um meine Sicherheit. Um die Sicherheit meiner Kinder. Meinen Geisteszustand. Ich hatte so viele Fragen, aber Henry war und blieb verschwunden. Schließlich brachte ich den Mut auf, die elf »Individuen« auf der Liste zu befragen. Manche antworteten bloß widerstrebend, andere begegneten mir geradezu feindselig. Aber mit ihrer Hilfe (so widerwillig sie auch erfolgt sein mag) setzte ich langsam das Puzzle der geheimen Geschichte der Vampire in Amerika zusammen, ihre Rolle in der Entstehung, der Entwicklung und dem beinahen Untergang unseres Landes. Und die Wahrheit über den Mann, der uns vor ihrer Tyrannei bewahrte.
Siebzehn Monate lang gab ich alles auf für diese zehn in Leder gebundenen Tagebücher und dieses Bündel Briefe, das so fein säuberlich mit einem roten Gummiband zusammengehalten wurde. In gewisser Weise waren das die besten siebzehn Monate meines Lebens. Jeden Morgen erwachte ich auf der Luftmatratze im Keller des Ladens mit einem Ziel vor Augen und mit der Gewissheit, dass ich etwas wahrhaft Sinnvolles tat, selbst wenn ich es völlig und hoffnungslos allein tun musste. Selbst wenn ich darüber meinen Verstand verlieren würde.
Vampire existieren. Und Abraham Lincoln war einer der größten Vampirjäger seiner Zeit. Seine Tagebücher, die er im zarten Alter von zwölf Jahren zu schreiben begonnen hatte und deren Einträge erst mit dem Tag seiner Ermordung endeten, sind wahrhaft erstaunliche, ergreifende und
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