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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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ihm nicht mehr auf zehn Mark an. Sollte er die beiden Scheinhälften einfach in den Papierkorb werfen? So etwas hatte er noch nie gemacht. Dann fand er die Kleberolle in der kleinen Kommode auf dem Flur. Abschaffel setzte sich an den Tisch und klebte den Geldschein sorgfältig wieder zusammen.
    Er beschloß, sich zu duschen und zu rasieren und später ins Kino zu gehen. Er nahm frische Unterwäsche mit ins Bad und ließ heißes Wasser ins Becken einlaufen. Zuerst wollte er sich rasieren. Als er den Rasierpinsel in die Hand nahm, fiel die untere Hälfte des Pinselknaufs wieder auf den Boden. Seit Wochen mußte er, wenn er sich rasierte, zugleich auch den Pinsel zusammenhalten, weil sonst der Knauf leicht auseinanderfiel. Im selben Augenblick, als er die beiden Knaufhälften wieder zusammensetzte, fiel ihm ein, daß er heute bereits einen neuen Rasierpinsel gekauft und ihn wieder weggeworfen hatte. Aus Fassungslosigkeit setzte er sich auf den Rand der Badewanne und sah auf das stille Rasierwasser im Waschbecken. Niemand als er selbst brauchte dringend einen neuen Rasierpinsel. Aber den Pinsel, den er sich gekauft hatte, hatte er wieder wegwerfen müssen, weil er nicht ertragen konnte, daß er so wenig gekostet hatte. Die Nähe zu seinem billigen Vater war für ihn zu groß gewesen. Und er hatte ihn wegwerfen müssen, weil das für ihn die einzige Möglichkeit gewesen war, sich noch länger zu verheimlichen, daß er ganz genauso war wie sein Vater: billig, geizig, schäbig.
    Er saß und dachte und dachte und saß. Er wollte nicht so sein wie sein Vater. Er fühlte, daß die von ihm entdeckten Zusammenhänge für sein Leben bedeutsam waren. Er fühlte, daß ihn die Wonnen des Begreifens zuversichtlich stimmten. Er beschloß, sich noch heute einen neuen Rasierpinsel zu kaufen, und zwar den besten, den er finden konnte. Er zog seine Schuhe an und hatte das Gefühl, durch den Vater hindurchzugehen. Er schob ihn zur Seite, zugleich bat er ihn dafür um Entschuldigung, Verzeihung, Herr Vater. Abschaffel räumte seine Brieftasche zusammen und ging noch einmal in die Stadt.
    Das Nachmittagslicht war schon grau und muschelig geworden. Vielleicht schneite es bald wieder. Die Spitzen der Hochhäuser waren von der Straße aus nicht mehr zu sehen; sie schienen sich im Nebel aufgelöst zu haben. Von unten sah es aus, als hätte oben jemand radiert. Vor der Börse kickte ein Junge heruntergefallene Pommes frites vor sich her. In der Hochstraße fand er einen Laden, der ihm geeignet erschien. Ein Verkäufer in schneeweißer Kutte trat auf ihn zu. Ich möchte einen Rasierpinsel kaufen, sagte Abschaffel. Der Verkäufer zog eine Schublade auf und fragte: Was wollen Sie denn ungefähr ausgeben? Wahrheitsgemäß antwortete Abschaffel, daß er nicht wußte, was ein wirklich guter und schöner Rasierpinsel kostete, und ebenso wahrheitsgemäß setzte er hinzu: Ich habe bisher immer nur billige gehabt. Ja, sagte der Verkäufer, die billigen Borsten quellen in spätestens zwei Jahren wieder auf. Was sind billige Borsten? fragte Abschaffel. Schweinsborsten zum Beispiel, sagte der Verkäufer; das ist alles Schweinsborste, was Sie hier sehen. Abschaffel nahm ein paar von ihnen in die Hand und sah verstohlen auf die Preisschilder. Sie kosteten 23 Mark, 26 Mark oder 29 Mark, und das waren erst die billigen. Abschaffel erschrak, und einige Augenblicke lang wollte er zurück ins Woolworth. Gibt es bessere Rasierpinsel als diese? fragte er dann. Sicher, sagte der Verkäufer und zog eine andere Schublade heraus. Das sind die besten, die es gibt, sagte er, reine Dachshaarpinsel. Ach so, machte Abschaffel. Er nahm einen Dachshaarpinsel in die Hand, und tatsächlich, das Haarbüschel fühlte sich so weich an, als würde der Dachs im Pinsel noch leben. Abschaffel drehte den Pinsel um und sah, daß er 54 Mark kostete. Und als der Verkäufer bemerkte, daß Abschaffel über den Preis bestürzt war, sagte er: Wir haben Kunden, die rasieren sich schon seit zwanzig Jahren mit ein und demselben Dachshaarpinsel. Über diesen Satz war Abschaffel mindestens ebenso bestürzt wie über den Preis. Die Vorstellung, daß er ein und denselben Pinsel zwanzig Jahre lang morgens auf seinem Badebord sehen würde, belastete ihn jetzt schon. War es dann nicht besser, doch nur billige und schlechte Rasierpinsel zu kaufen? Die konnte er wenigstens von Zeit zu Zeit wegwerfen. Andererseits wollte er nicht rückfällig werden und nicht wieder in die Kleinlichkeit des Vaters verfallen.

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