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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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sei er ein Kind, das den Weg noch nicht richtig kannte und deswegen die Schienen entlanggehen mußte. Er beobachtete ein paar Schulkinder, die ihre Schulranzen an einer großen Reklametafel abgestellt hatten und ein paar Coladeckel auf die Straßenbahnschienen legten. Die Bahn kam und walzte die Coladeckel zu flachen Plättchen nieder. Sie steckten die Plättchen ein und holten ein paar Orangenschalen aus ihren Ranzen heraus. Sie legten auch die Schalen auf die Schienen, und als die nächste Bahn kam und die Apfelsinenschalen zerquetschte, daß es unter den Rädern nur so spritzte und fletschte, schrien und lachten die Kinder. Abschaffel wurde vom Neid gepackt. So schöne Einfälle hatte er niemals gehabt, als er ein Schüler war. Die Kinder gingen zu ihren Ranzen zurück und zogen sie über. Sie klopften sich auf die Arme und spuckten den geparkten Autos auf die Dächer. Phantastisch, wie sie sich selbst gefielen. Wo hatten sie das nur gelernt? Jetzt sahen sie die Reklametafel, vor der sie sich die ganze Zeit aufgehalten hatten. Das Bild zeigte eine grundlos lachende junge Hausfrau, die ein neues Spülmittel in den Armen hielt und von hinten von ihrem Mann belobigend auf den Hals geküßt wurde. Der riesige lachende Mund der Hausfrau befand sich in Höhe der Köpfe der Kinder, die eben wieder ihre Ranzen absetzten und öffneten. Sie holten braune und schwarze Filzstifte aus ihren Schreibmäppchen heraus und begannen einige der Zähne aus dem strahlend weißen Gebiß der Hausfrau schwarz und braun anzumalen. In weniger als einer halben Minute war das große Reklamebild auf ergreifende Weise entstellt. Es sah nun aus, als hätten die Leute, die das Bild gemacht hatten, aus Versehen eine Frau mit kaputten Zähnen engagiert und es nicht bemerkt. Die Kinder lachten über das entstellte Bild und kickten mit ihren Schuhspitzen in ein paar Schneereste hinein, die am Straßenrand langsam alt wurden. Die Kinder liefen stadteinwärts wie er, und Abschaffel ging hinter ihnen her. Sie johlten, schlugen spielerisch auf sich ein oder kicherten, und Abschaffel war mit seinen Gedanken immer noch bei dem veränderten Reklamebild. Aus einem gräßlichen Schein hatten die Schüler einen gräßlichen Effekt geschlagen, und darüber hörte er nicht auf zu staunen. Sollte das bedeuten, daß die Kinder schon jetzt die Welt verhöhnten, in der sie doch leben sollten oder wenigstens mußten? Und wenn es so war, wer hatte ihnen den Hohn beigebracht und die erstaunlichen Mittel, ihn auszudrücken? Die Kinder hatten nicht einfach auf dem Bild herumgekritzelt. Das hatte Abschaffel vor zwanzig Jahren als Schüler auch getan. Sie hatten einen festumrissenen Einfall, der ein Bild in sein Gegenteil verkehrte. Er hatte nicht erwartet, daß ihm der Anblick der schwarz übermalten Zähne so zusetzen würde. Inzwischen beschäftigte er sich nur noch mit der Gewitztheit der Schüler, die ihn für ein paar Augenblicke so neidisch machte, daß er heftiger atmen mußte. Es war die Frechheit, die er ihnen stehlen und die er für sich, für sein eigenes Leben aufbrauchen wollte. Wenn er, als er so alt gewesen war wie diese Kinder, auch nur die Hälfte ihrer Frechheit gehabt hätte, dann würde er heute ein anderes Leben führen, überlegte er. Durch den Neid wurde ihm sein Leben unheimlich, und aus dieser Unheimlichkeit fand er nur schwer wieder heraus. Es war, als blickte er seinen letzten zwanzig falschen Lebensjahren in ihr verkrümmtes Gesicht, und das war ein Anblick, der ohne Beistand kaum zu ertragen war. Aber es gab keinen Beistand; er mußte nur dafür sorgen, daß er die frechen Kinder aus dem Blick verlor, und das war leicht zu machen.
    Endlich kam er in die Innenstadt. Er sah einen italienischen Eissalon, in dem sich für die Dauer des Winters ein Pelzgeschäft eingerichtet hatte. Wo sonst im Sommer die Leute an kleinen Tischen saßen und ihr Eis leckten, saßen und standen nun mit teuren Pelzmänteln eingekleidete Puppen. Aus einer Passage kam eine Schar alter Leute heraus. Sie hatten die Gesten von Personen an sich, die gerade aus dem Kino kommen. Sie rückten ihre Kleidung zurecht, knöpften Jacken und Mäntel zu, betrachteten den Sitz ihrer Hüte in Schaufenstern und zogen sich die Hosen unter den Mänteln hoch. Sollte Abschaffel vielleicht auch ins Kino gehen? Er sah sich die Fotos in den Schaukästen an, aber er sah nur die Gesichter von schmerzverzerrten Männern, die gerade andere Männer umbrachten oder selbst umgebracht wurden. Er

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