Abschied ist ein scharfes Schwert. Ein Mordsroman (German Edition)
Vorbemerkung
Den ersten Brief, den ich erhielt, empfand ich nicht als beunruhigend. Er war an die Anschrift meiner Eltern adressiert. Kein Absender. Nur die Adresse, darüber mein Name in dicken, schwarzen Druckbuchstaben auf weißem Briefumschlag.
Meine Mutter nahm den Brief zum Anlass, mir wieder einmal ein Paket aus der Heimat zu schicken. So fand er neben niederrheinischem Zuckerrübenkraut, holländischer Mayonnaise und selbst gestrickten Socken den Weg zu mir.
Sehr geehrter Herr Boscher,
ich bin schon lange, Sie ahnen ja gar nicht wie lange schon, Ihr Fan. Ich schreibe Ihnen, um Ihnen zweierlei zu übermitteln: meinen Dank und eine Bitte.
Vielen Dank für die Lesung vor Weihnachten letzten Jahres im Heimatstübchen, es hat mich sehr gefreut, Sie wieder persönlich zu erleben. Leider habe ich mich nicht getraut, Sie anzusprechen.
Somit schreibe ich Ihnen meine Bitte: Lesen Sie mich. Denn ich schreibe auch, wobei ich mich bislang noch nicht getraut habe, jemandem meine Aufzeichnungen zu zeigen.
Ihnen möchte ich diese zeigen. Warum Ihnen? Sagen wir der Einfachheit halber, weil ich mich Ihnen verbunden fühle, schließlich stammen wir aus der gleichen Gegend.
Mit freundlichen Grüßen
K.
Nein, dieser Brief war nicht beunruhigend, er war ärgerlich. Keine Unterschrift, kein Name. Nur K., nur Schmeicheleien, und das Beste: Bis auf das eine, mit einer schwer zu entziffernden Handschrift beschriebene Blatt Papier war der Umschlag leer. Die angesprochene literarische Kostprobe war nicht enthalten. Meine erste Reaktion war, den Brief in die Ablage P. zu befördern.
Eine halbe Stunde später holte ich den Brief mitsamt Umschlag wieder aus dem Papierkorb heraus. Meine Neugierde war geweckt. Wer war K.?
Ich rief mir ins Gedächtnis, wer bei der angesprochenen Lesung alles anwesend gewesen war. Die Veranstalter, die mich als einheimischen, wenn auch einige Hundert Kilometer entfernt wohnenden Autor eingeladen hatten. Dann meine Familie. Eine Freundin von früher zusammen mit ihrer ältesten Tochter. Ein Kumpel aus der Mannschaft, in der ich als Jugendlicher Handball gespielt hatte. Ein Lokalredakteur der Rheinischen Post, der im Anschluss an die Lesung ein Interview mit mir führte. Das war es. Kurz: Die Lesung war kein Erfolg. Ich rief meine Mutter an. Auch sie konnte sich nicht an einen weiteren Zuhörer erinnern. Auf den Brief angesprochen fiel ihr ein, dass Papa einen zweiten Brief an mich im Briefkasten gefunden hatte. Ich hörte Papier rascheln, sie murmeln »Hier irgendwo muss er doch sein«, als sie neben sich auf der Eckbank in dem üblichen Papierberg bestehend aus diversen Ausgaben der Rheinischen Post, den Niederrhein Nachrichten, Werbesendungen nach dem Brief suchte. Während sie nach dem zweiten Brief suchte, las ich nochmals den Ersten, dabei bemerkte ich erst die von der Rückseite des Blattes durchscheinende Schrift und drehte den Brief um:
Abschied ist ein scharfes Schwert
stand auf der Rückseite des Briefes. Ich kannte diese Worte natürlich, schließlich war ich aufgrund des Musikgeschmacks meiner Eltern mit Radio WDR 4 aufgewachsen. Da sie mir aber an dieser Stelle begegneten, glaubte ich, hier den Titel der Aufzeichnungen von K. vor mir zu haben.
Ich lächelte. Das Ganze war ein Teaser. Andeutungen, die einen neugierig aufhorchen lassen sollen, unscharfe Einstellungen, die beabsichtigen, Lust auf deutlichere Einblicke zu machen – und aus der Tiefe des Raumes wächst der Titel zu riesigen Lettern heran, während einen die dramatische Musik in den Sitz drückt.
» Erwischt!«, schrie mir in diesem Moment meine Mutter ins Ohr. »Hab ich dich! Der Brief ist dicker als der Erste!«
Natürlich ist er das, dachte ich nach wie vor lächelnd. Nach dem Teaser kommt der Trailer. Doch als ich wenige Tage später den von meiner Mutter mir zugesandten Brief erhielt (sie hatte ihre eigene Anschrift durchgestrichen, meine darunter geschrieben und ihn in den nächsten Briefkasten geworfen), verging mir das Lächeln. Gut vierzig Schreibmaschinenseiten. Darauf ein Post-it.
Sehr geehrter Herr Boscher,
wenn Sie diese Zeilen lesen, hat Ihre Mutter meinen zweiten Brief zur Post gebracht und Sie halten die ersten Seiten meiner Aufzeichnungen (oder soll ich sagen, meines Romans?) in Händen. Es sind nicht die ersten Seiten, die ich geschrieben habe, aber die Ersten, die Sie lesen sollen.
Viele Grüße
K.
Die Sie lesen sollen... , was
Weitere Kostenlose Bücher