Absender unbekannt
Telefon hatte aufs Bett fallen lassen, während sie nach dem Stift suchte. Angies Küche ist keimfrei, weil sie sie noch nie benutzt hat; auch ihr Badezimmer glänzt, weil sie Schmutz verabscheut, doch ihr Schlafzimmer sieht immer aus, als habe sie inmitten eines Wirbelsturms einen riesigen Koffer ausgepackt. Aus geöffneten Schubladen quellen Socken und Unterwäsche hervor, saubere Jeans, Hemden und Leggings liegen auf dem Fußboden verstreut oder hängen an Türgriffen oder am Kopfende des Bettes. Solang ich sie kenne, hat sie tagsüber noch nie das getragen, was sie morgens als erstes in der Hand hielt. In all dem Durcheinander lugen Bücher und Zeitschriften mit geknickten Seiten oder zerrissenem Rücken In Angies Schlafzimmer sind schon ganze Fahrräder verlorengegangen – und jetzt suchte sie nach einem Stift.
Nachdem mehrere Schubladen aufgezogen, Kleingeld, Feuerzeuge und Ohrringe auf den Nachtschränken hin-und hergeschoben worden waren, sagte eine Stimme: „Was suchst du?“
„Einen Stift.“
„Hier! „
Sie kam wieder ans Telefon. „Hab einen Stift.“
„Papier?“ fragte ich.
„Oh, Scheiße.“
Das nahm eine weitere Minute in Anspruch.
„Schiess los!“
Ich gab ihr Jason Warrens Stundenplan und Zimmernummer. Sie sollte ihn beobachten, während ich auf Stan Timpsons Anruf wartete.
„In Ordnung“, meldete sie. „Scheiße, ich muss in die Gänge kommen.“
Ich warf einen Blick auf die Uhr. „Sein erstes Seminar fängt doch erst um halb elf an. Du hast Zeit.“
„Nee. Hab noch einen Termin um halb zehn.“
„Bei wem?“
Sie atmete nun etwas schwerer, ich nahm an, sie schlüpfte in ihre Jeans. „Bei meinem Anwalt. Wir sehen uns dann in Bryce.“ Sie legte auf, und ich blickte nach unten auf die Strasse. Sie glich einem Canyon, so klar war die Luft. Wie ein gefrorener Fluss setzte sich der Asphalt deutlich von den zweistöckigen Häusern aus Backstein ab. Die Windschutzscheiben der Autos waren von der Sonne ausgebleicht und versengt.
Beim Anwalt? In den letzten drei berauschenden Monaten mit Grace war mir manchmal mit großem Erstaunen eingefallen, dass meine Kollegin da draußen ihr eigenes Leben führte. Das mit meinem nichts zu tun hatte. Ein Leben mit Rechtsanwälten, kurzen Affären, Minidramen und Männern, die ihr morgens um halb neun im Schlafzimmer einen Stift reichten.
Wer war dieser Anwalt? Und wer war der Typ, der ihr den Stift gegeben hatte? Und warum interessierte mich das überhaupt? Und was, zum Teufel, hieß „bald“?
Ich musste ungefähr eineinhalb Stunden totschlagen, bis Timpson anrufen würde. Nachdem ich meine Übungen absolviert hatte, blieb immer noch mehr als eine Stunde übrig. Ich suchte in meinem Kühlschrank nach etwas anderem als Bier oder Wasser, fand aber nichts, so dass ich auf einen Kaffee zum Laden um die Ecke ging. Ich nahm die Tasse mit auf die Strasse und lehnte mich für einen Moment gegen eine Straßenlaterne, genoss den Tag und schlürfte meinen Kaffee, während der Verkehr an mir vorbeirollte und Fußgänger zur U-Bahn-Haltestelle am Ende der Crescent Street eilten. Hinter mir konnte ich den Gestank von abgestandenem Bier und ins Holz eingezogenem Whiskey riechen, der aus der Black Emerald Tavern herüberwehte. Der Emerald öffnete morgens um acht für die Heimkehrer aus der zweiten Nachtschicht, und jetzt, um kurz vor zehn, klang es dort schon genauso wie Freitag abends; man hörte ein Durcheinander von genuschelten, trägen Stimmen, das hin und wieder von einem Grölen oder dem kurzen Klacken eines Billardqueues unterbrochen wurde.
„Hallo, Fremder!“
Ich drehte mich um und blickte in das Gesicht einer zierlichen Frau mit einem vagen, verschwommenen Gesicht. Mit der Hand schirmte sie die Augen vor der Sonne ab. Ich brauchte eine ganze Minute, um sie zu erkennen, denn sie trug andere Kleidung als sonst und einen anderen Haarschnitt, und selbst ihre Stimme war tiefer geworden, seit ich sie zum letzten Mal gesehen hatte. Doch noch immer klang ihre Stimme leicht und vergänglich, so als verfliege sie mit dem Wind, bevor man sich die Worte einprägen konnte. „Hi, Kara! Seit wann bist du denn wieder hier?“
Sie zuckte die Achseln. „Schon ‘ne ganze Zeit. Wie geht’s dir, Patrick?“
„Gut.“
Kara wippte vor und zurück und verdrehte die Augen, ihr Lächeln umspielte sanft die linke Gesichtshälfte – sofort war sie mir wieder vertraut.
Sie war ein Kind mit sonnigem Gemüt, aber eine Einzelgängerin. Während die anderen Ball spielten, schrieb
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