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Abteil Nr. 6

Abteil Nr. 6

Titel: Abteil Nr. 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosa Liksom
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Bretterzäune vor Landhäusern, ein verfallener Holzschuppen. Vorne dehnt sich das unbekannte, im Eis erstarrte Russland aus, der Zug rast dahin, am erschöpften Himmel zeichnen sich hell leuchtende Sterne ab, der Zug schießt in die Natur hinein, in die drückende Finsternis unter dem Schein des sternenlosen Wolkenhimmels. Alles ist in Bewegung: der Schnee, das Wasser, die Luft, die Bäume, die Wolken, der Wind, die Städte, die Dörfer, die Menschen und die Gedanken. Der Zug stampft durch das verschneite Land.
    Die junge Frau hörte den schweren, ruhigen Atem des Mannes. Der Mann betrachtete seine Handflächen – sie waren breit und kräftig. In Bodenhöhe flitzten Weichenlichter vorbei. Bisweilen verdeckten stehende Waggons die Sicht, dann wieder entfaltete sich vor dem Fenster die nächtliche Finsternis Russlands, hier und da huschte ein blass erleuchtetes Haus vorüber. Der Mann blickte auf, musterte die junge Frau lange und durchdringend und stellte dann erleichtert fest:
    »Wir sind also zu zweit. Die glänzenden Gleise werden uns in Gottes Kühlschrank bringen.«
    An der Abteiltür erschien eine gleichmäßig kräftig gebaute Schaffnerin und reichte beiden Reisenden sauberes Bettzeug und ein Handtuch.
    »Dass mir keiner auf den Boden spuckt! Der Gang wird zweimal am Tag geputzt. Und jetzt, bitte, die Pässe her!«
    Sobald sie die Dokumente erhalten hatte, entfernte sich die Schaffnerin mit spöttischem Lächeln. Der Mann nickte ihr hinterher.
    »Die alte Arisa hat hier Vollmachten wie die Miliz. Das hält die Säufer und Huren in Zucht und Ordnung. Besser, man regt sich über sie nicht unnötig auf. Arisa ist nämlich auch die Göttin der Zugheizung. Das sollte man nicht vergessen.«
    Er nahm ein Messer mit schwarzem Griff aus der Tasche, entfernte die Sicherung und drückte auf den Knopf am Griff. Ein metallisches Geräusch erklang, die Messerklinge schnappte mit kräftigem Federsprung auf. Behutsam legte er das Messer auf den Tisch und grub einen großen Brocken Rossijskaja-Käse aus seiner Tasche, dazu ein ganzes Schwarzbrot, eine Flasche Kefir und ein Glas Sauerrahm. Schließlich entnahm er der Seitentasche des Gepäckstücks eine triefende Tüte mit Gurken und fing an, sich mit der einen Hand Schwarzbrot, mit der anderen Gurken in den Mund zu stopfen. Nachdem er gegessen hatte, zog er einen Wollstrumpf aus der Provianttasche. Darin steckte eine Flasche, die mit warmem Tee gefüllt war. Der Mann sah die junge Frau lange an. In seinem Blick konnte man zunächst Abscheu erkennen, dann gefräßige Neugier und schließlich Billigung, aber nur bis zu einem gewissen Grad.
    »Ich bin Stahlin Eisenowitsch«, sagte er, »Metaller und einer, der alle Arbeiten am Bau übernehmen kann. Ich komme aus Moskau, Wadim Nikolajewitsch Iwanow mein Name. Für Sie einfach Wadim. Einen Schluck gefällig? Im Tee sind Vitamine, deshalb ist es von Vorteil, ein oder zwei Tässchen zu trinken. Ich habe schon gedacht, da haben sie mich Kerl aber schwer bestraft und mit einer aus Estland ins Abteil gesteckt. Dabei besteht ja ein Unterschied zwischen der Finljandskaja Respublika und der Estonskaja Sowetskaja Socialistitscheskaja Respublika . Die Esten sind krummschnäblige deutsche Nazis, aber die Finnen sind im Prinzip aus demselben Speck gemacht wie unsereins. Finnland ist eine kleine Kartoffel weit weg und hoch im Norden. Von euch geht kein Verdruss aus. Alle nördlichen Völker der Welt sind von ein und demselben Schlag, der nordische Stolz verbindet sie. Das Fräulein ist übrigens die erste Finnin, die ich je gesehen habe. Aber gehört hab ich viel. Bei euch herrscht ja Prohibition.«
    Der Mann goss der jungen Frau dunklen Tee ins Glas. Sie kostete ihn vorsichtig. Auch der Mann nahm den Tee in kleinen Schlucken zu sich, dann stand er auf und machte sein Bett. Verschämt zog er die äußeren Kleidungsstücke aus, die dicke schwarze Hose mit dem schmalen Ledergürtel, das aus grobem Stoff genähte leichte Sakko und das weiße Hemd, und legte sie sauber gefaltet am Fußende aufs Bett. Er zog einen hellblauen, gestreiften Pyjama an und schlüpfte zwischen die gestärkten Laken. Gleich darauf ragten vernachlässigte und von schlechten Schuhen ruinierte krumme Zehen und raue, rissige Fersen unter der Decke hervor.
    »Gute Nacht«, sagte der Mann matt, beinahe flüsternd, und schlief auf der Stelle ein.
    Die junge Frau blieb lange wach. Im Halbdunkel des Abteils bewegten sich die Teegläser und ihre Schatten, ohne je stillzuhalten. Sie

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