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Abteil Nr. 6

Abteil Nr. 6

Titel: Abteil Nr. 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosa Liksom
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einer betrübten Seele voller tristem Frieden. Mit einem Herzen, das nicht mehr vor Gefühl schlägt, sondern nur noch aus reiner Gewohnheit. Keine verrückten Streiche mehr, nicht einmal Schmerz. Bloß Langeweile.«
    Die junge Frau dachte an ihren letzten Abend in Moskau zurück, wie sie von einem Ort zum nächsten geeilt war. Sie war die lange Treppe zur Metro hinuntergerannt und mit der roten Linie zur Lenin-Bibliothek gefahren, dort auf dem gekachelten Fußboden durch die museumsartige Halle und die von Bronzestatuen gesäumten Labyrinthe. Dann hatte sie die vielen steilen Rolltreppen hinauf zur blauen Linie genommen, war am Arbat vorbeigefahren, an dem mit Mosaiken verzierten, kirchenhaften Bahnhof ausgestiegen, an dessen Namen sie sich jetzt nicht erinnern konnte, und unter dem Betongewölbe hatte sie gemerkt, dass sie ihre Tasche mit den Zugfahrkarten und den Vouchers vergessen hatte, und da war sie umgekehrt, von einer Metro zur anderen gerannt, hatte die Stationen, an denen sie umgestiegen war, abgeklappert und die Tasche zu ihrem großen Erstaunen an der Haltestelle der Lenin-Bibliothek gefunden: Sie wartete mitten im Fenster des Metroaufseherkabuffs auf ihre Besitzerin.
    Der Zug bremste und hielt. Wenig später zog die Lokomotive mit einem Ruck an, und der Zug setzte sich wieder in Bewegung. Erneutes Bremsen. Und Stopp. Die Lokomotive wunderte sich kurz, pfiff dann fröhlich und nahm entschlossen Fahrt auf. Für einen Moment klimperten ihre Räder, wie um Verzeihung bittend, aber kurz darauf ratterte der Zug zielstrebig vorwärts. Am anderen Ufer des Schneemeers sprang die Sonne hervor, erleuchtete kurz Erde und Himmel und verschwand wieder hinter uferloser Moorlandschaft. Der Mann musterte die junge Frau mit stechender Aufmerksamkeit.
    »Ist deine Seele voller Träume? Na, träumen darf man. Auch der Taugenichts Iwan liegt auf der Ofenbank und träumt von einem Ofen, der sich bewegt, und einem Tisch, der sich selbst deckt, aber dieses Leben, das Leute, die klüger sind als ich, als Übergangsgefängnis bezeichnet haben, dieses Leben findet hier und jetzt statt. Schon morgen kann der Tod kommen und dich an den Eiern packen.«
    Sein Gesicht leuchtete vor Selbstzufriedenheit. Er hatte einen schönen Mund, schmale Lippen und eine kleine Narbe am Kinn wie Trotzki.
    »Der Tod kann kein bisschen schlimmer sein als das Leben.«
    Er schloss die Augen und kniff die Lippen fest zusammen. Dann sang er leise vor sich hin.
    »Hab keine Angst vorm Tod, mein Mädchen, solange du lebst, denn dann gibt es ihn noch nicht. Und wenn du gestorben bist, gibt es ihn nicht mehr.«
    Er stieß ein paar Mal auf, lockerte die Schultern und streckte den Rücken durch.
    »Besser sterben als Angst haben. Und wenn man vor was Angst haben muss, dann vor den Mongolen. Die haben nicht mal Namen. Die tun nichts als fressen, bumsen, schlafen und sterben. Die haben keinerlei Moral, und ein Menschenleben ist denen nichts wert. Wie man etwas kaputt macht, wissen sie allerdings. Gibst du einem Mongolen ein Transistorradio, bekommst du fünf Minuten später einen Haufen Schrauben und Kabel und das leere Gehäuse zurück. Obwohl die Mongolen uns Russen äußerst schlecht behandelt und unsereinem das moralische Rückgrat gebrochen haben, versuchen wir trotzdem, ihnen zu helfen. Wir bringen ihnen die Gegenwart. Aber die begreifen nichts, die ficken ihre Kinder und lachen uns frech ins Gesicht … Verstehst du? Sieh mal, die Sowjetunion ist ein riesiges Land, in dem ein altes, großes, sehr gemischtes Volk lebt. Wir haben die Leibeigenschaft, die Zarenzeit und die Revolution durchlebt und durchlitten. Unsereins hat den Sozialismus aufgebaut und ist zum Mond geflogen. Was hat euereins getan? Nichts. Gar nichts! Was ist bei euch besser als bei uns? Nichts!«
    Er schlug sich mit den flachen Händen auf die Knie und machte den Mund auf, um noch etwas zu sagen, schwieg aber.
    Oberhalb der Waldmauer schwebte ein Adler mit dem Kadaver eines Rentierkalbs in den Fängen. Die Abteiltür ging von selbst auf. Die kleinen, gelb blinkenden Lampen, die im Gang am Boden entlangliefen, surrten, der Gang sah aus wie die Startbahn eines Flughafens. Das Heizungsrohr spie brennend heiße Luft in den engen Raum. Die junge Frau trat auf den Gang. Dort stand ein junges Paar, das eine knochige, runzlige alte Frau von der Größe eines Kindes und ein Mädchen mit Zöpfen bei sich hatte. Das Mädchen hatte sich einen braunen Pionierteddy unter die Achsel geklemmt und hielt

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