Abteil Nr. 6
hatte fortgewollt aus Moskau, brauchte Abstand zu ihrem Leben, aber nun sehnte sie sich bereits zurück. Sie dachte an Mitka, an Mitkas Mutter Irina, an Irinas Vater Zachar, an sich selbst und was aus ihnen allen werden würde. Sie dachte an ihrer aller provisorisches Zuhause, das jetzt leer stand. Nicht einmal die Katzen, Fräulein Schmutz und Kater Müll, waren noch dort. Die Lokomotive pfiff, die Schienen quietschten, das Geklapper des Zuges hämmerte metallisch, der Mann schnarchte mit tiefer Stimme die ganze Nacht. Das Geräusch erinnerte die junge Frau an ihren Vater, und sie fühlte sich sicher. In den frühen Morgenstunden endlich, als die Schatten zu schrumpfen begannen, sank sie in weißen, schaumigen Schlaf.
Als die junge Frau vorsichtig die Augen öffnete, sah sie als Erstes den Mann zwischen den Betten Liegestütze machen. Auf den lackierten Abteilwänden zuckte der grüne Schein der Sonne, der Mann wischte sich mit dem Handtuch den Schweiß von der Stirn. Noch bevor die junge Frau sich aufgerichtet hatte, klopfte es an der Tür, und Arisa, in eine schwarze Uniformjacke gezwängt, stellte zwei dampfende Teegläser, trockene Waffeln und vier große kubanische Zuckerstücke auf den Tisch. Der Mann nahm einige Kopeken aus seiner Geldbörse, die ein Relief von Walentina Tereschkowa mit Weltraumhelm zierte.
Nachdem Arisa gegangen war, zog er sein Messer unter der Matratze hervor, nahm ein Stück Zucker in die linke Hand, klopfte es mit der stumpfen Seite der schmalen Klinge in zwei Teile und reichte der jungen Frau ein dampfendes Teeglas und ein halbes Zuckerstück.
Er lächelte scheu und traurig, zog eine Wodkaflasche aus der Tasche, schraubte sie auf und füllte zwei blaue Schnapsgläser, die er ebenfalls den Tiefen seines Gepäckstücks entnommen hatte.
»Weil wir die Freude einer langen gemeinsamen Reise haben, darf der Trinkspruch kurz ausfallen: Auf unser Zusammentreffen! Auf den einzigen wahren Staat der Welt, auf die Sowjetunion! Die Sowjetunion wird niemals sterben!«
Er kippte sich seine Portion in den Rachen und biss ein Stück von einer saftigen Zwiebel ab. Die junge Frau berührte mit dem Glas die Lippen, trank aber nicht.
Der Mann trocknete sich mit lümmelhaftem Lächeln die Lippen an einer Ecke des Tischtuchs. Die junge Frau kostete den Tee. Er hatte lange gezogen, war aromatisch und stark. Erst jetzt merkte der Mann, dass sie ihr Wodkaglas nicht geleert hatte.
»Es ist traurig, alleine zu trinken.«
Sie rührte das Glas nicht an. Er musterte sie mit enttäuschter Miene.
»Schwer zu verstehen. Aber sei’s drum. Ich zwinge niemanden, auch wenn ich Lust dazu hätte.«
Er vergaß sich im finsteren Betrachten der jungen Frau. Sein Blick gefiel ihr nicht, und darum nahm sie das kleine Handtuch und die Zahnbürste und ging zur Toilette, um sich zu waschen.
Die Schlange nahm den halben Gang ein. Die Reisenden trugen Morgenmäntel, Pyjamas, Trainingsanzüge, zwei Männer sogar lediglich die weißen Unterhosen der Armee.
Mehr als eine Stunde später erreichte die junge Frau ihr Ziel. Nun war sie an der Reihe, die feuchte, klebrige Türklinke zu ergreifen. Die Toilette befand sich in unsauberem Zustand, und der Gestank war stechend. Auf dem Fußboden schwappte eine Mischung aus Pisse, Seife und Zeitungspapier, aus dem Hahn kam kein einziger Tropfen Wasser. Allerdings waren noch zwei exakt gewürfelte, von der Stange geschnittene beigebraune, nach Natrium riechende Stücke Haushaltsseife vorhanden. Die Oberfläche des einen war mit rostbraunem Schleim überzogen. Mit einem Satz stieg die junge Frau auf die Kloschüssel, um sich nicht die in Leningrad gekauften Morgenpantoffeln nass zu machen, und führte eine Trockenreinigung von Zähnen und Gesicht durch. Das kleine Toilettenfenster stand einen Spaltbreit offen. Ein vergessener, menschenleerer Bahnhof fuhr vorbei.
Der Mann lud Schwarzbrot, Meerrettich im Glas, Zwiebel- und Tomatenscheiben, Mayonnaise, Dosenfisch und hart gekochte Eier, die er vorsichtig schälte und halbierte, auf den Tisch.
»Den Satten vergisst Gott nicht und umgekehrt. Also bitte sehr!«
Sie aßen lange, und erst nachdem der Mann die Reste des Frühstücks wieder in seiner Provianttasche verstaut und mit der Hand die Brotkrümel vom Tisch auf den Boden gewischt hatte, genossen sie den inzwischen auf die richtige Temperatur abgekühlten Tee.
»Ich habe heute Nacht von Petja geträumt. Wir wurden im selben Jahr geboren und waren in der Schule in einer Klasse.
Weitere Kostenlose Bücher