Acacia 01 - Macht und Verrat
die Menschen, die dort lebten, sich den Acaciern unterlegen fühlten. Dies sei einer der Gründe, weshalb Acacia über die ganze Bekannte Welt herrsche. Er sagte: »Wir sind ein begabtes Volk. Aber wir sind auch gütig. Wir sollten weder die Talayen noch andere Völker geringschätzen...«
»Ich habe nicht gesagt, dass ich sie geringschätze. Sie haben ihre eigene Lebensweise, und wenn ich König bin, werde ich mich bemühen, sie zu respektieren. Also, warum liegt die Karte hier vor uns? Habt Ihr uns etwas beizubringen, oder nicht?«
Jason, dem die Ungeduld in Alivers Tonfall nicht entging, nickte. Mit einem nachsichtigen Lächeln ließ er das Thema fallen. Ja, er war der Lehrer, vergaß aber nie, dass er auch ein Bediensteter war. Mena bedauerte das bisweilen. Wie sollten sie wirklich etwas über die Welt lernen, wenn sie ihre Lehrer allein dadurch zum Schweigen bringen konnten, dass sie die Stimme hoben?
Der Unterricht ging weiter, und alle hörten Jason ohne neuerliche Unterbrechungen zu. Lange jedoch blieb es nicht so. Kurz darauf trat König Leodan, ihr Vater, aus der Tür und atmete tief die Morgenluft ein. Sein Gesicht hatte die Beschaffenheit von gegerbtem Leder. Sein Haar war an den Schläfen weiß, was den Rest noch dunkler erscheinen ließ, sodass es sein Alter und die Bürde des Königsamtes scheinbar Lügen strafte. Er musterte seine Kinder, dann nickte er dem Lehrer zu und betrachtete das vor ihm ausgebreitete Landschaftspanorama. »Jason«, sagte er, »ich muss den Unterricht heute Morgen stören. Da die aushenische Delegation jederzeit eintreffen kann, werde ich in den nächsten Wochen weniger Zeit für meine Kinder haben, als mir lieb wäre. Ich habe beim Erwachen den Wunsch verspürt auszureiten und bin geneigt, ihm nachzugeben. Wenn meine Kinder geneigt sind, mich zu begleiten, wäre die Sache entschieden...«
Die Kinder waren geneigt, und bald darauf galoppierten sie durch eines der Nebentore des Palasts. Alle Königskinder ritten seit dem vierten oder fünften Lebensjahr, und alle hielten sich hervorragend im Sattel, selbst Dariel. Eine Leibwache von zehn Berittenen folgte ihnen in diskretem Abstand. Niemand konnte sich vorstellen, dass dem König in Acacia etwas zustoßen könnte, doch als Monarch war er bisweilen gezwungen, sich der Tradition zu beugen, die aus einer gefährlicheren Zeit stammte.
Sie ritten über die Hauptstraße nach Westen. Hin und wieder überquerten sie schmale Brücken, von denen man Ausblick auf die wacholderbestandenen Hänge hatte, die sich bis zum Meer erstreckten. Hin und wieder überragten die Dornenkronen der Akazien das dünn gewebte Grün. Von diesen Bäumen hatte die Insel natürlich ihren Namen und die Akaran-Dynastie ihren informellen Titel. Die Bäume waren Orientierungspunkte in der Landschaft und wuchsen nur hier und auf keiner anderen Insel des Innenmeers.
Als Mena noch jünger gewesen war, hatten ihr die Bäume aus der Nähe Angst gemacht. Sie waren knorrig, dornig und vollkommen reglos und wirkten dennoch irgendwie belebt, als wären sie von einer Intelligenz beseelt, die sie aus bestimmten Gründen verborgen hielten. Erst in letzter Zeit fühlte sie sich in ihrer Nähe wohler. Man hatte ein altes, abgeschmirgeltes und gezähmtes Exemplar als Klettergelegenheit in Dariels Zimmer gestellt. Dies hatte viel dazu beigetragen, ihre Ängste zu beschwichtigen. Wenn man die Bäume abhacken, versetzen und Kinderspielzeug daraus machen konnte, gab es wohl keinen Grund, sich vor ihnen zu fürchten.
Die Reiter wandten sich zu dem zerklüfteten, naturbelassenen Strand an der Südküste hinab und ritten an den von Vögeln wimmelnden Klippen entlang. Eine Zeitlang behielten sie eine lockere Formation bei, wichen großen, von der Sonne gebleichten Treibholzstücken aus oder ritten zwischen ihnen hindurch, hinaus ins glasgrüne Wasser, bis der Schaum die Pferdebeine umspülte. Als sie abgesessen waren, schleuderte Aliver Muscheln in die Brandung. Corinn stand neben einem halb vermoderten gewaltigen Baumstamm, die Arme nach beiden Seiten ausgestreckt und das Gesicht dem kühlen Wind zugewandt. Dariel scheuchte Winkerkrabben über den Sand.
Mena hielt sich zur Rechten ihres Vaters, als dieser von einem zum anderen schritt, an allem Anteil nahm und lachte, denn wenn er mit seinen Kindern zusammen war, fand er vieles amüsant. Mena hielt einen angeschwemmten Ast in der Hand, fuhr mit den Fingerspitzen über die verwitterte Maserung. Genau so sollte das Leben sein. Sie
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