Acacia 01 - Macht und Verrat
hatte sich seine Stimme verändert. Aus seiner Miene sprach abgrundtiefe Langeweile, eine Krankheit, die ihn vor einem Jahr befallen und seitdem nicht mehr losgelassen hatte. »Sie hat schon wieder an Fische gedacht. Oder an Tümmler.«
»Weder Fische noch Tümmler haben etwas mit dem Thema zu tun, um das es hier geht«, sagte Jason. »Ich wiederhole: Wen hat der Begründer der Arkan-Dynastie bei Galaral gestürzt?«
Das also war die Frage, die ihr entgangen war? Das wusste doch jedes Kind! Mena war es zuwider, auf zu leichte Fragen zu antworten. Sie fand nur dann Freude am Wissen, wenn sie andere damit ausstechen konnte. Selbst Dariel, ihr jüngerer Bruder, wusste, wie der erste König hieß und was er getan hatte, und dabei war er erst neun. Sie hielt sich so lange zurück, wie sie konnte, doch als Aliver den Mund öffnete, um irgendeine spitze Bemerkung vom Stapel zu lassen, kam sie ihm eilends zuvor. »Edifus war der Begründer. Er wurde in Armut und Dunkelheit im Seengebiet geboren, siegte jedoch in einem blutigen Krieg, der die ganze Welt in seinen Strudel riss. Bei Galaral traf er auf den Unwahren König Tathe und vernichtete dessen Streitmacht mit Unterstützung der Santoth-Gottessprecher. Edifus war der erste in einer Reihe von einundzwanzig Akaran-Königen, deren letzter mein Vater ist. Edifus’ Söhne Thalaran, Tinhadin und Praythos machten sich daran, das Reich mit einer Reihe von Feldzügen zu sichern, den so genannten Verbreitungskriegen...«
»Sehr gut«, sagte Jason. »Das ist mehr, als ich wissen wollte...«
»Eine Möwe.«
»Wie bitte?«
»Ich war eine Möwe, kein Fisch und auch kein Tümmler.«
Mena schnitt erst Aliver und dann Corinn eine Grimasse.
Etwas später, nachdem sie vergeblich versucht hatte, die Vogelbilder erneut heraufzubeschwören, begnügte Mena sich damit, der Unterhaltung zu folgen. Das Gespräch hatte sich der Geographie zugewandt. Corinn zählte die Namen der sechs Provinzen auf und fügte ein paar Worte über die Herrscherfamilien und die jeweilige Regierungsform hinzu: das Festland im nahen Norden, das Gouvernement Mein im fernen Norden, die Candovische Föderation im Nordwesten, Talay im Süden und die Bergstämme Senivals im Westen. Die zusammengehörigen Inseln des Vumu-Archipels waren die letzte Provinz, die jedoch keine Zentralregierung besaß.
Jason entrollte eine Landkarte auf dem Gras und ließ die Kinder die Ecken mit den Knien beschweren. Dariel hatte an Landkarten immer besonderen Spaß. Er beugte sich weit vor und wiederholte alles, was der Lehrer sagte, als müsse er für andere Zuhörer dolmetschen. Etwas an seiner Langsamkeit veranlasste Mena, ihn zu unterbrechen.
»Warum befindet sich Acacia immer in der Mitte der Landkarten?«, fragte sie. »Wenn die Welt gekrümmt ist und kein Ende hat – das habt Ihr selbst gesagt, Jason -, warum liegt dann unser Land in der Mitte und kein anderes?«
Corinn fand die Frage töricht. Sie blickte Jason mit hochgezogenen Brauen an und schürzte die Lippen. Mit ihren fünfzehn Jahren, der dunklen Haut und dem rundlichen Gesicht, welches das acacische Schönheitsideal verkörperte, war sie eine einnehmende Erscheinung und sich dessen auch bewusst. Vieles von ihrer verstorbenen Mutter Aleera lebte in ihr weiter; zumindest schienen das alle zu glauben. »Es ist halt der Mittelpunkt, Mena. Das weiß doch jeder.«
»Eine treffende Erwiderung«, sagte Jason, »aber Menas Frage ist nicht ganz unberechtigt. Die Menschen nehmen sich selbst immer am wichtigsten. Sie nehmen den bedeutendsten Platz in ihrer Wahrnehmung ein, stehen immer im Mittelpunkt und in vorderster Reihe, nicht wahr? Vielleicht zeige ich euch einmal eine Landkarte aus Talay. Dort zeichnet man die Welt ganz anders. Warum sollten sie auch nicht glauben, sie seien der Mittelpunkt der Welt? Auch Talay ist ein Land.«
Aliver brach in schallendes Gelächter aus. »Das ist doch nicht Euer Ernst! Die Menschen laufen dort halbnackt herum. Sie jagen mit Speeren und verehren Götter, die wie Tiere aussehen. Dort gibt es noch Stammesregierungen – mit Häuptlingen und allem, was dazugehört. Die sind doch nicht besser als die streitlustigen Mein.«
»Außerdem ist es dort zu heiß«, setzte Corinn hinzu. »Man sagt, die Erde sei dort die Hälfte des Jahres staubtrocken. Sie müssen aus Erdlöchern trinken, die sie selbst gegraben haben.«
Jason räumte ein, dass das talayische Klima beschwerlich sei, zumal südlich der Küste. Außerdem wusste er zu erzählen, dass
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