Acacia 02 - Die fernen Lande
Gemächern, hatte das Licht gedämpft und alle Diener und Zofen fortgeschickt. Der größte der Zaubersprüche, die sie geplant hatte. Sie wusste, dass er sie erschöpfen würde, doch sie wollte nicht noch einen Tag warten. Es lag Kraft darin, etwas zu tun, das wurde ihr jetzt klar. Es lag Macht darin, das Lied zu benutzen. Es gab Stimmen, die glücklich waren, ihr zu helfen. Stimmen, die sie auf immer greifbare Weise drängten weiterzumachen.
Was blieb anderes übrig?, fragten sie. Alles war in Gefahr. Sie musste irgendjemandem vollkommen trauen können, jemandem, den die Menschen lieben und hinter dem sie sich scharen würden, jemanden, der ihr einen Teil ihrer Bürde abnehmen und sie zusammen mit ihr tragen würde, jemanden, der die Welt bereits in den Händen gehalten hatte. Jemanden, der sie liebte und der wahrhaftig an ihrer Seite stehen würde. Jemanden, der ihr dafür danken würde, dass sie ihm vergeben hatte.
Barad, der Aufwiegler aus den Minen von Kidnaban, ein Rebell, ein aufrührerischer, verräterischer, giftiger Stachel in ihrem Fleisch – ein blinder Narr – hatte recht. Sie war allein. Schon seit Jahren. Vielleicht schon seit jenem Tag vor so vielen Jahren, als sie sich in den Händen ihrer sterbenden Mutter gesehen hatte, als sie noch ein Mädchen gewesen war, als sie zum ersten Mal erfahren hatte, wie mitleidlos die Welt war. Das war damals gewesen.
Das, was kommen würde, konnte sie nicht allein bewältigen. Sie stellte sich der Zukunft nicht für sich selbst entgegen, und sie wollte sich ihr nicht allein entgegenstellen. Das brauchte sie auch nicht zu tun. Sie musste einfach nur etwas von einem Ort nehmen und es einem anderen geben. In diesem Fall musste sie vom Blut ihrer Familie nehmen. Jetzt verstand sie das besser. Die Stimmen halfen ihr. Das Lied ergab jetzt mehr Sinn. Der Wurm besaß eine Schönheit, als er sich drehte, und er half ihr, die Kontrolle zu übernehmen. Sie war kein Kind mehr: unbeholfen in ihren Bewegungen, ungeschickt, der Welt nur verschwommen gewahr. Ihre Hände gehörten jetzt ganz und gar ihr. Jeder Finger, jede Kontur und jede Falte und jeder Fleck. Es waren ihre Hände!
Sich dessen vollkommen sicher und bestärkt von einem Flüstern, das von weither kam, öffnete sie den Mund und ließ das Lied heraus, das für sie tun würde, was sie sich wünschte. Der Tod war gar keine so große Barriere. Ihr ganzes Leben lang hatte sie geglaubt, er sei endgültig, absolut, das Ende, der schreckliche Fluch. Doch das war nur ein Teil von ihm. Die Stimmen halfen ihr, das zu verstehen.
Als sie sang, erschien es ihr immer offensichtlicher. Sie hatte eine Wahrheit gefunden, die sich denen entzog, die die Gottessprache nicht kannten. Während sie sang, zog sie die Barrieren zwischen Leben und Tod weg. Während sie sang, suchte sie unter den vagen Umrissen auf der anderen Seite dessen, was sie für das Leben gehalten hatte – obwohl sie wusste, dass die Barriere nicht das einfache Ding war, das sie gefürchtet hatte.
Und dort fand sie einen von jenen, die sie suchte. Anfangs war er so unscharf wie ein Geruch, der von einer Brise herangetragen wurde, weit ausgedehnt und im Einklang mit so vielem auf der Welt. Sie zog seine Spuren in sich hinein. Sie sang, und seine weit verstreute Essenz konnte sich ihrem Aufruf nicht widersetzen. Einige Zeit lang war es, als wären ihre Worte Hände, und der, den sie suchte, war Sand, der durch ihre Finger rieselte. Doch sie sang nur um so inniger. Sie zog ihn zu sich, so entschlossen, dass schließlich …
Er stand vor ihr. Er war da, aufrecht, durchsichtig, hin und wieder leuchtend, aber auch greifbar, körperlich. Er war es, und sie kannte ihn, auch wenn die Einzelheiten seines Gesichts waberten und zerflossen und nicht zur Ruhe kommen wollten. Noch nicht.
»Was hast du getan?«, krächzte er wie ein alter Mann, der aus einem Traum von seiner Jugend erwacht war.
Einen schrecklichen Moment lang dachte Corinn, die Gestalt stelle jede Entscheidung in Frage, die sie getroffen hatte, seit sie einander zum letzten Mal gesehen hatten. Sie würde es niemals alles erklären können! Das Leben hatte ihr tausend Herausforderungen in den Weg gestellt, jede mit einer Million stachliger Verwicklungen und Gefahren. Entscheidungen mussten getroffen werden, und das war niemand anderem als ihr zugefallen. Sie hatte entschieden, so gut es ihr möglich war. Niemand konnte daran etwas auszusetzen haben. Niemand konnte sie verstehen. Niemand konnte wissen, was
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