Acacia
schritt, an allem Anteil nahm und lachte, denn wenn er mit seinen Kindern zusammen war, fand er vieles amüsant. Mena hielt einen angeschwemmten Ast in der Hand, fuhr mit den Fingerspitzen über die verwitterte Maserung. Genau so sollte das Leben sein. Sie stellte sich nicht die Frage, ob ein König, der mit seinen Kindern spielte, nicht vielleicht etwas Ungewöhnliches sei. So war es immer schon gewesen. Etwas anderes konnte sie sich nicht vorstellen. Allerdings fragte sie sich, ob auch die anderen die Anspannung hinter der Fassade ihres Vaters bemerkten. Seine Freude war aufrichtig, aber nicht ohne Bemühtheit. Es lag Schmerz darin, denn jemand fehlte hier.
An diesem Abend kuschelten Mena und Dariel sich, wieder im warmen Bienenstock des Palasts angelangt, auf Menas Bett zusammen, da ihr Vater ihnen eine Gutenachtgeschichte erzählen wollte. Wie alle Räume des Palasts war auch Menas Zimmer groß und geräumig, und der Boden war aus poliertem weißem Marmor. Anders als Corinn, die ein buntes Nest mit viel Spitze und zahlreichen Kissen bewohnte, hatte Mena keinen Einfluss auf die Ausstattung ihres Zimmers genommen. Die Möbel waren allesamt alt, aus knorrigem Hartholz, mit Polstern, die auf der Haut kitzelten. Auf den Wandbehängen waren Gestalten aus der acacischen Geschichte dargestellt. Sie hätte nur von wenigen zu sagen vermocht, was sie getan hatten, fühlte sich aber von ihnen beschützt. Sie wachten über sie. Schließlich waren das die Leute ihres Vaters. Ihre eigenen Leute.
Leodan saß neben dem Bett auf einem Hocker. »So«, sagte er, »ich glaube, wir sind so weit, dass ich euch die Geschichte von den zwei Brüdern erzählen kann, und wie es zu dem großen Streit zwischen ihnen kam. Schade, dass Corinn und Aliver schon zu alt für Gutenachtgeschichten sind; diese hier hätte ihnen bestimmt gefallen, auch wenn sie traurig ist.«
Der König erzählte, in der fernen Vergangenheit habe es zwei Brüder gegeben, Bashar und Cashen, die einander so nahestanden, dass sie unzertrennlich waren. Nicht einmal eine Messerklinge passte zwischen sie, so sehr liebten sie einander und so viel Freude fanden sie an der Gesellschaft des anderen. Zumindest galt das bis zu dem Tag, an dem eine Abordnung eines nahen Dorfes zu ihnen kam und erklärte, da die Brüder so gut und edel seien, wünschten sie sich, einer von ihnen solle ›König‹ werden, wie sie sich ausdrückten. Ein Träumer-Prophet habe ihnen gesagt, sie würden zu Wohlstand gelangen, wenn sie einen König hätten. Und den hätten sie auch bitter nötig, denn seit Jahren hätten sie unter Hunger und Zwietracht zu leiden. Sie selbst könnten sich nicht entscheiden, wer von ihnen König werden solle, und deshalb bäten sie die Brüder, dass einer von ihnen das Amt übernehmen möge.
Die beiden Brüder wollten wissen, ob sie beide König werden könnten, doch die Dorfbewohner erwiderten, das sei unmöglich. Nur einer könne König sein, erklärten sie. Das habe der Prophet ihnen gesagt. Trotzdem fanden die Brüder Gefallen an der Vorstellung. Sie baten die Dorfbewohner, einen von ihnen auszuwählen, der andere werde die Entscheidung respektieren. Insgeheim kamen sie überein, nach hundert Jahren die Rollen zu tauschen. Dann solle derjenige König sei, der bislang leer ausgegangen sei.
Cashen wurde ausgewählt und zum König ernannt. Hundert Jahre lang herrschte er ohne Zwischenfall. Den Menschen ging es gut. Bashar war stets an seiner Seite. Doch am ersten Tag des einhundertersten Jahres bat Bashar Cashen, ihm die Krone zu übergeben. Cashen musterte ihn kühl. Er hatte sich daran gewöhnt, König zu sein, und Gefallen an der Macht gefunden. Bashar rief ihm die Vereinbarung in Erinnerung, die sie getroffen hatten, doch Cashen leugnete, ein solches Versprechen abgegeben zu haben. Bashar wurde zornig. Er packte seinen Bruder. Cashen machte sich von ihm los. Auf einmal verspürte er Angst und Scham und rannte aus dem Dorf und in die Hügel. Er schlug sich alle liebevollen Gedanken an seinen Bruder aus dem Sinn, bis er von Bitterkeit erfüllt war. Bashar setzte ihm nach und jagte ihn ins Gebirge. Gewitterwolken sammelten sich, und Blitze zuckten über den Himmel. Strömender Regen prasselte auf sie herab.
Dariel tippte seinem Vater aufs Handgelenk. »Ist das auch wahr?«
Leodan neigte sich ihm entgegen und flüsterte: »Jedes Wort.«
»Sie hätten sich abwechseln sollen«, meinte Dariel müde.
Als Bashar seinen Bruder stellte, schlug er ihm mit seinem Stab auf
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