Accelerando
nach komplementären Antigenen Ausschau halten, nach
Molekülen, die Fremdkörper sind und auf drohende
Schädigungen des Organismus hinweisen.
Autonome Verteidigungsmechanismen. Antikörper. Multiple
Intelligenzen, die an den Rändern des äußeren
Systems knabbern. Allerdings sind Menschen nicht so simple
Geschöpfe wie Bandwürmer, sie können die Vorboten
des Unheils erkennen. Wen wundert es da, dass diejenigen, die den
Blick nach außen richten, in Wirklichkeit nicht darüber
diskutieren, ob Flucht angesagt ist, sondern darüber,
wie weit und wie schnell man davonlaufen muss…
Früh am nächsten Morgen, als es draußen noch
dunkel ist, findet eine Besprechung des Wahlkampfteams statt. Die
meisten der körperlich anwesenden Teilnehmerinnen und Teilnehmer
sehen leicht ausgezehrt aus, was auf den übermäßigen
Konsum von Aufputschmitteln hinweist, die der Melatoninproduktion
entgegenwirken sollen. Während Rita den Blick durch das
Besprechungszimmer schweifen lässt, unterdrückt sie ein
Gähnen. Die Wände sind riesigen virtuellen Räumen
gewichen, um Platz für rund dreißig im Exocortex agierende
Doppelgänger schlafender Bundesgenossen zu schaffen. Beim
Aufwachen werden sie sich an einen besonders lebensechten, deutlichen
Traum erinnern. Ritas Blick fällt auf Amber, die sich mit ihrem
berühmten Vater unterhält, und auf einen jüngeren
Mann, den eines ihrer Unterprogramme als einen EU-Politiker des
vergangenen Jahrhunderts identifiziert. Zwischen ihm und Ambers Vater
scheint eine gewisse Spannung zu herrschen.
Nachdem Amber ihr inzwischen bis zu einem bestimmten Grad
vertraut, hat Ritas inneres Auge jetzt Zugang zu einer ganz neuen
Dimension von Wahlkampfinformationen. Es ist steganografisch
verschlüsseltes Material aus einer Geheimschublade des
Speichers, den das Wahlkampfteam gemeinschaftlich nutzt, und umfasst
auch Dinge, die sie keineswegs erwartet hat: beängstigende
Untersuchungen über den Bevölkerungsanteil der
rekonstruierten Simulierten, statistische Erhebungen über
Auswanderungen aus dem inneren System, Abhängigkeitsgraphen,
deren Verästelungen auf grobe Manipulationen unterschiedlicher
Art hinweisen. Diese latenten Bedrohungen hat man in der Wetware von
Flüchtlingen entdeckt. Letztendlich ist das auch der Grund
dafür, dass Amber, Manfred und, leicht widerstrebend, auch
Sirhan in einer planetenweiten Wahl für eine radikale politische
Gruppierung kämpfen, obwohl sie aus unterschiedlichen
Gründen Zweifel daran hegen, dass das demokratische Konzept in
dieser posthumanen Epoche überhaupt noch anwendbar ist.
Leicht verwirrt lässt Rita die Informationen mit einem
Lidschlag verschwinden und beauftragt einige Dutzend
persönlicher Agenten damit, sich am Rande ihres Bewusstseins
näher damit zu befassen. »Brauch einen Kaffee«,
murmelt sie dem Tisch zu, während er ihr einen Stuhl
anbietet.
»Sind alle online?«, fragt Manfred. »Dann fang ich
jetzt an.« Er wirkt müde und besorgt; trotz seines
jugendlichen Körpers ist ihm die ganze Last seines Alters
anzumerken. »Wir müssen uns auf eine Krise einstellen,
Leute. Vor rund hundert Kilosekunden ist die Bit-Rate bei den
Simulationseingängen deutlich nach oben geschnellt.
Zusätzlich zu den rechtmäßigen Einwanderungen, um die
wir uns kümmern müssen, empfangen wir jetzt, grob
gerechnet, jede Sekunde einen neuen rekonstruierten, simulierten
Zustandsvektor. Falls die Rate noch einmal im selben Maßstab
ansteigt, werden uns die Einwanderer so überschwemmen, dass wir
sie nicht mehr an Ort und Stelle überprüfen können.
Folglich können wir auch keine hirnlosen Zimbos ausmachen, die
sich nur für Menschen halten. Entweder müssen wir
sie dann in Sicherheitsverwahrung bringen – oder aber alle ohne
Überprüfung reinkarnieren. Sollten wirklich Joker im Spiel
sein, wäre Letzteres wohl das Riskanteste, das wir uns einfallen
lassen könnten.«
»Warum speichert ihr sie nicht einfach auf einem Diamanten
ab?«, fragt der gut aussehende junge Expolitiker zu Manfreds
Linken und wirkt dabei fast belustigt – so, als wäre ihm
die Antwort bereits bekannt.
»Ist eine Frage der Politik.« Manfred zuckt die
Achseln.
»Es würde unseren Gesellschaftsvertrag
aushöhlen«, erklärt Amber und sieht dabei so aus, als
hätte sie sich gerade eine unfreundliche Bemerkung verkniffen.
Rita empfindet plötzlich Bewunderung dafür, wie beherrscht
sie diese Besprechung über die Bühne bringen. Amber redet
sogar mit ihrem Vater, als wäre
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