Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)
Bundeskanzlerin bückte sich nach der Lebkuchenschachtel, die beim Bremsen heruntergefallen war.
»Wir stehen gewiss nicht mit leeren Händen, wohl aber mit leeren Herzen da«, sagte ich leise.
»Sie sind lustig«, antwortete die Bundeskanzlerin. »Damit soll ich die Hartz-IV-ler besänftigen, wenn die mich fragen, wovon sie im nächsten Jahr ihren Kindern das Frühstück bezahlen sollen?«
»Dann möchten Sie in dieser Amtszeit also nicht länger die Kanzlerin der Mitte sein, sondern die Kanzlerin aller Hartz-IV-Empfänger werden?«
»Unsinn, liebe Mitbürgerin. Ich darf Sie daran erinnern, dass wir gerade ein Wachstumsbeschleunigungsgesetz und ein Steuerentlastungsgesetz verabschiedet haben, von dem in erster Linie der Mittelstand profitieren wird.«
»Geschenke, Geschenke, Geschenke«, sagte ich. »Dann heißt >alle Deutschen‹ nichts weiter als ›alle in Deutschland Geschenkberechtigten‹? Glauben Sie wirklich, dieses Land zusammenhalten zu können, indem Sie jedes Jahr die neueste Spielkonsole unter den Baum legen?«
Wir fuhren am Brandenburger Tor vorbei, dessen Kulisse eine Gruppe Weihnachtsmänner nutzte, sich gegenseitig zu fotografieren. Die Bundeskanzlerin lächelte zum Fenster hinaus.
»Was sollte ich Ihrer Meinung nach denn tun, liebe Mitbürgerin? Den Leuten predigen, den Gürtel enger zu schnallen? Und das Ganze womöglich auch noch fürs Vaterland? Die Linken warten doch nur darauf, mich als Nationalistin beschimpfen zu können, und die Rechten, die mich ohnehin für eine verkappte Sozialistin halten, freuen sich gleich mit.«
Touristen hatten sich versammelt, um zu fotografieren, wie sich die Weihnachtsmänner unterm Brandenburger Tor fotografierten. Zwei ältere Frauen standen abseits, ganz ohne Kamera, die Köpfe in den Nacken gelegt und betrachteten die Quadriga bei ihrem Ritt von West nach Ost.
»Warum setzen wir uns nicht einfach mal ohne Geschenke unter den Baum«, sagte ich, »und blättern im Familienalbum. Wenn man schon keine gemeinsamen Zukunftsvisionen mehr hat, muss man sich wenigstens der gemeinsamen Geschichte versichern. Warum laden Sie die Deutschen nicht dazu ein, mit Ihnen im Familienalbum zu blättern?«
Die Bundeskanzlerin schaute mich abschätzig an. »Was glauben Sie denn, was wir zum Beispiel am 9. November, vor wenigen Wochen, hier, auf diesem Platz, getan haben?«
»Die Erinnerung an das einzige restlos freudige Ereignis der deutschen Geschichte in einem Kessel Schwarz-Rot-Goldenem ersäuft«, sagte ich.
»Liebe Mitbürgerin, passen Sie auf, dass Sie meine Geduld nicht überstrapazieren. Wir haben ein würdiges und fröhliches Fest gefeiert. Freunde aus aller Welt haben mir das bestätigt. Und verkneifen Sie sich Ihre Seitenhiebe aufs Ostfernsehen. Schließlich hat der Thomas Gottschalk moderiert, nicht die Dagmar Frederic.«
»Den Gottschalk nehme ich auf meine Westkappe. Aber wie kann man es als Bundeskanzlerin zulassen, dass ein solches Herzstück der deutschen Erinnerung unserer Eventmaschinerie zum Fraß vorgeworfen wird?«
»Haben Sie eine Ahnung, wie kompliziert es war, sich überhaupt auf einen gemeinsamen Grundfahrplan für die Feierlichkeiten zu einigen? Außerdem fand ich die Idee mit den Dominosteinen sehr schön und originell.«
»Kindergarten!«, rief ich.
»Hätten Sie lieber Fahnenaufmärsche gesehen? Warum nicht gleich Fackelzüge?«
»Die braunen und roten Nashörner haben wir ausgestopft und ins Museum gestellt, und da gehören sie hin. Die Leute sehnen sich danach, etwas zu fühlen, das über Steuererleichterung hinausgeht. Und über jene >Emotionen<, die jeder drittklassige Fernsehmoderator herbeizukreischen versucht. Stimmt es Sie nicht nachdenklich, dass im vergangenen Jahr das deutsche Gemüt vom Selbstmord eines Fußballtorwarts stärker bewegt wurde als von der Erinnerung an die Nacht des Mauerfalls?«
»Hätte ich mich am 9. November auf die Gleise legen sollen? Und außerdem: Fußball! Glauben Sie mir, liebe Mitbürgerin, ich habe den Jürgen Klinsmann immer um das beneidet, was er im Sommer 2006 hinbekommen hat.«
»Klinsmann hat es geschafft, für kurze Zeit der Bundestrainer aller Deutschen zu sein – aber was für Schlüsse ziehen Sie daraus, verehrte Frau Bundeskanzlerin?«
»Eine Legislaturperiode ist kein Sommermärchen.«
Schweigend schauten wir zum Fenster hinaus. Die leuchtende Stadtmitte war graueren Fassaden gewichen, Gemüsehändler priesen kurz vor Feierabend Clementinen, Mangold, Granatäpfel an.
»Liebe
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