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Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)

Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)

Titel: Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thea Dorn
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Ernsthaftigkeit wagen!« Dies wäre der Satz der Stunde. Aber wer soll ihn sagen? Und wäre er in dem Moment, in dem er auf der großen Bühne ausgesprochen wird, nicht unweigerlich die nächste Phrase, die sich besonders frenetisch beklatschen ließe, bevor man im Pausenfoyer zum Büfett schreitet?

Die Kanzlerin der Lebkuchenherzen
     
    Angela Merkel verspricht, die Kanzlerin aller Deutschen zu werden. Thea Dorn hat einen Neujahrswunsch.
     
    Drei Monate ist es her, da versprach Angela Merkel, »die Bundeskanzlerin aller Deutschen« werden zu wollen. In der vergangenen Woche, kurz vor den Feiertagen, traf ich den Weihnachtsmann. Er fragte, was ich mir wünsche. Ich sagte, dass ich an der Bescherungsfront wunschlos glücklich sei. Nur einen Wunsch für Neujahr hätte ich. Angela Merkel möge ihre Ansprache nutzen, uns endlich zu erklären, was sie mit ihrem Versprechen aus der Wahlnacht sagen wollte.
    Der Weihnachtsmann lachte. »Gute Frau«, sagte er, »es freut mich, dass Sie an mich und meine Möglichkeiten glauben. Aber sind Sie nicht alt genug zu wissen, dass solche Sätze einzig und allein dem Zweck dienen, nichts zu sagen? Ebenso gut könnten Sie das Lametta an Ihrem Baum fragen, was es Ihnen eigentlich sagen will.« Sprach’s, ließ die Rentierpeitsche knallen und mich im Berliner Dezemberregen stehen.
    Missgelaunt ob des Zynikers im roten Mäntelchen schlug ich den Kragen hoch, um meinen Heimweg fortzusetzen, als eine schwarze Limousine neben mir zum Halten kam. Das hintere Seitenfenster wurde heruntergelassen, und eine bekannte Stimme sprach aus dem Fond: »Liebe Mitbürgerin, ich bitte Sie einzusteigen. Es gibt etwas, das ich Ihnen erklären will.«
    Ich ging zur anderen Wagenseite, denn keine Mitbürgerin soll von ihrer Bundeskanzlerin erwarten, dass diese hinter den Fahrer rutscht, um ihr Platz zu machen.
    »Das wäre aber nicht nötig gewesen«, sagte die Bundeskanzlerin, als ich neben ihr saß. »Ich hätte auch durchrutschen können. Möchten Sie einen Lebkuchen?«
    »Ich möchte eine Erklärung.«
    »Liebe Mitbürgerin, Sie sind anstrengend«, seufzte die Bundeskanzlerin und stellte die Schachtel mit den Lebkuchenherzen zwischen uns. »Sie möchten also von mir wissen, wie ich die Kanzlerin aller Deutschen werden will.«
    »Zuallererst möchte ich wissen, warum Sie gesagt haben, dass Sie die Kanzlerin aller Deutschen werden möchten. Darf ich aus dieser Formulierung schließen, dass Sie selbst zugeben, es während Ihrer ersten Amtszeit nicht gewesen zu sein?«
    »Das haben Sie jetzt sehr scharf analysiert.«
    »Wer waren Sie bislang? Die Bundeskanzlerin der meisten CDU-Wähler? Die Bundeskanzlerin von ein paar verirrten SPDlern? Die Bundeskanzlerin der Ostdeutschen? Der Westdeutschen? Der Männer? Der...«
    »Ich habe versucht, die Kanzlerin der Mitte zu sein«, fiel mir die Bundeskanzlerin ins Wort. »Und erklären Sie mir nicht, dass dies ein leerer Begriff sei. Politik braucht Begriffe, die wie Gefäße sind. Wir stellen das Gefäß hin. Und dann warten wir ab, womit es sich füllt. Das nenne ich Demokratie. Da vorn biegen Sie links ab«, sagte sie zum Fahrer.
    Wir passierten einen Mülleimer der Berliner Stadtreinigung: »Corpus für alle delicti«, stand darauf. Zwei Jungen mit Wollmützen versuchten vergeblich, eine Coladose in den Eimer zu kicken.
    »Ich verstehe«, sagte ich. »Dann ist >alle Deutsche< also die Urne, die Sie in der Wahlnacht hingestellt haben. Aber warum mussten Sie ergänzen, dass Sie die Bundeskanzlerin aller Deutschen werden möchten, >damit es uns allen besser geht, gerade in einer solchen Krise    »Was ist falsch an dem Wunsch, dass es uns allen besser gehen möge?«
    Die Limousine bremste für eine Familie, die tütenbeladen aus einem der großen Kaufhäuser auf die Straße stolperte. Die Mutter hielt das jüngste Kind am Oberarm gepackt, seine Beine ruderten zornig über dem nassen Asphalt.
    »Verehrte Frau Bundeskanzlerin, ich will die wirtschaftliche Krise, in der wir stecken, nicht leugnen. Im Übrigen bin ich recht angetan, wie Sie im vergangenen Jahr dazu beigetragen haben, dass dieses Land nicht die Nerven verliert. Aber finden Sie nicht, dass es uns alles in allem ziemlich gut geht? Zumindest so gut, dass wir nicht ständig den Eindruck erwecken müssten, unser größtes Problem läge darin, wie wir an der Konsumfront noch enger zusammenrücken können.«
    »Es freut mich, wenn Sie das so sehen. Aber erzählen Sie das mal einem Hartz-IV-Empfänger.« Die

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