Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)
der Sache willen müssen wir machen und ertragen können.
Der große Unernst
Thea Dorn ist des Theaters überdrüssig.
Eine Frau im roten Kostüm tritt vor den Vorhang und sagt: »Es brennt.«
Das Publikum weiß nicht, wie es sich verhalten soll. Die Beherzteren im Saal lachen. Nur eine Dame aus der Provinz fasst ängstlich nach ihrem Täschchen. Der Connaisseur an ihrer Seite legt ihr die Hand auf den Oberschenkel. »Keine Sorge«, raunt er, »Regietheater.«
Die Frau auf der Bühne klingt weiterhin ernst: »Meine Damen und Herren, ich sage es ganz offen: Wenn wir nicht schnell und entschlossen handeln, wird jeder hier verbrennen. Oder ersticken.«
Einige Zuschauer werden unruhig, meinen, Rauch zu schnuppern, schielen nach den Leuchten mit den Fluchtmännchen. Der Kritiker in Reihe 7 verdreht die Augen.
»Vor uns steht eine riesige Aufgabe«, fährt die Frau auf der Bühne fort. »Ich sage: eine Herkulesaufgabe, weil wir eigentlich Unvereinbares zusammenbringen müssen: den Brand bekämpfen und trotzdem niemandem den Abend verderben.«
Sogleich ist die Stimmung wieder entspannt. Selbst die Dame aus der Provinz setzt ein wissendes Grinsen auf.
Da springt ein Mann im schwarzen Anzug aus der Feuergasse auf die Bühne. »Das kann so nicht weitergehen«, ruft er und fuchtelt mit der Hand. »Bringen Sie Ordnung in den Laden, nehmen Sie endlich Ihre Verantwortung wahr!«
Die Frau im Rampenlicht kichert. Das Publikum ist größtenteils auf ihrer Seite und kichert mit.
Der Mann im Anzug merkt, dass er dabei ist, die Show zu verlieren. Auch er wendet sich jetzt direkt an den Saal, seine Rechte zeigt auf die Frau, die noch immer mit dem Publikum flachst. »Reden Sie mir nicht von Herkulesaufgaben«, donnert er, »Sie sind ja nicht einmal imstande, den neuen Getränkeautomaten in der Kantine aufstellen zu lassen.«
»Eins zu eins«, raunt der Connaisseur seiner Provinzbegleitung zu und applaudiert.
Dieses Stück wird nicht im Deutschen Nationaltheater in Weimar aufgeführt, sondern im Deutschen Bundestag in Berlin. Unlängst trug es den Titel »Generaldebatte zum Haushalt«, ebenso gut hätte es »Die Parlamentsdebatte zur Finanzkrise« oder »Die aktuelle Stunde zum Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan« sein können. Die grundlegende Dramaturgie wäre dieselbe gewesen.
Diejenigen, die gerade an der Macht sind, übernehmen die Rolle des Beschwichtigers. Um in diesem Fach zu reüssieren, ist es unumgänglich, auf den »Ernst der Lage« hinzuweisen und zu betonen, man tue dies »schonungslos«. Kein Regierungsdarsteller darf jedoch die Bühne verlassen, ohne Zeilen wie »Ich habe den Eindruck, dass die Dinge gut vorangehen« oder »Ich versichere Ihnen, wir sind auf einem positiven Weg« abgeliefert zu haben. Das Orchester möge weiterspielen, auch wenn die ersten brennenden Balken auf die Hinterbühne krachen.
Diejenigen, die gerade nicht an der Macht sind, versammeln sich zum Erregungschor. So laut wie möglich deklamieren sie, die Regierenden seien komplett unfähig, noch das geringste Problem in den Griff zu bekommen. Der Weltenbrand drohe, wenn der Zuschauer sich nicht bald entschlösse, sie, die anderen, an die Macht zu bringen. Alle Alarmglocken schrillen, auch wenn es nur der Pförtner war, der sich in seiner Loge heimlich eine Zigarette angesteckt hat.
Während vorn im Rampenlicht hektisch auf- und abgewiegelt wird, schwelt die Frage, ob es nun tatsächlich brennt, eigentümlich unbeantwortet vor sich hin. Auch der Zuschauer stellt sie sich allenfalls unterschwellig. Die Vorstellung, er selbst könne Brandopfer werden, flößt ihm wie eh und je Grauen ein. Doch solange ihm keine echten Flammen entgegenschlagen, ist es ein Grauen, das er sich gern einflößen lässt. Die Welt als Thrill und Zerstreuung.
Der global vernetzte Zuschauer des frühen 21. Jahrhunderts hat seinen Instinkt für die Realität verloren. Seine eigene Urteilskraft reicht nicht mehr aus, um zu unterscheiden, wo der Theaterdonner aufhört und die wirkliche Bedrohung anfängt. Auch die Medien helfen ihm nicht, wenn es darum geht, Sinne und Verstand zu schärfen. Im Gegenteil: Immer schneller und unter immer grelleren Jahrmarktsklängen treiben sie das Karussell der schlechten Nachrichten aus aller Welt an: Schweinegrippe, bombardierte Tanklaster in Afghanistan, Erdbeben in Haiti, Griechenland vor dem Staatsbankrott. Alles furchtbar, alles scheinbar ganz nah und dann doch wieder weit weg. Mit jedem Tag, an dem die Verhältnisse
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