Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)
später antwortete ihm Axel Honneth mit einem erbosten Essay, in dem er ebenjenen von Sloterdijk attackierten Sozialstaat als nicht ernsthaft infrage zu stellenden moralischen Imperativ verteidigte. Die Zeit -Feuilletonredaktion bot nun wiederum Peter Sloterdijk an, ihm Platz für eine Entgegnung auf Honneth einzuräumen. Jener schlug das Angebot jedoch prompt aus, indem er im Feuilleton der FAZ einen offenen Brief an die Zeit- Redaktion veröffentlichte, in welchem er kundtat, dass er nicht willens sei, sich mit Honneth auseinanderzusetzen, da »unser Professor [...] in Bezug auf meine Arbeit einen Lektüre-Rückstand von, freundlich geschätzt, sechstausend bis achttausend Seiten« habe, und er, Sloterdijk, im Übrigen konstatiere, dass es offensichtlich »keine legale Obergrenze für Giftkonzentrationen in glücklosen Philosophieprofessoren« gebe.
Vielleicht darf man dem Autor von Zorn und Zeit zugutehalten, dass er als Wiederentdecker der »thymotischen Energien«, als Verteidiger jener in der Antike hoch geschätzten Gemütsregungen wie Zorn und Ehrsucht, sich der eigenen Theorie konform verhält, wenn er ins enge Kleid der beleidigten Leberwurst schlüpft. Ein Musterbeispiel philosophischer Streitkultur liefert solch ein Verhalten nicht.
Doch auch die Honneth’sche Anti-Sloterdijk-Tirade »Fataler Tiefsinn aus Karlsruhe« enthält so starke polemische Unter- und Obertöne, dass einem Zweifel kommen, ob sich der letzte prominentere Vertreter der Frankfurter Schule tatsächlich noch jenem idealtypischen »herrschaftsfreien Diskurs« verpflichtet fühlt, in dem laut Jürgen Habermas einzig und allein der »eigentümlich zwanglose Zwang des besseren Arguments« herrschen soll – oder ob nicht auch er sich in den ganz normalen Niederungen von Aversion und Ressentiment bewegt, die er seinem Kontrahenten unterstellt.
Ein erratischer Denker wie Sloterdijk muss einen akademischen Geist wie Honneth abstoßen. Aber kennt unsere demokratische Kultur nicht weit schlimmere Krisenphänomene? Jene scheuen Denker zum Beispiel, die sich aus allen öffentlichen Gefechten heraushalten, weil ihnen die Arena zu schmutzig ist? Oder jene kulturwissenschaftlichrelativistisch geprägten Zeitkommentatoren, die uns erklären, dass kein Sozialstaatsausnutzer und Frauenwegsperrer als solcher bezeichnet werden dürfe und darüber hinaus unser Verständnis verdiene, weil sich in einer zunehmend unübersichtlichen Welt ohnehin nicht mehr von »richtig« und »falsch« reden ließe?
Die Kunst des Streitens befindet sich in einem fatalen Zirkel: Die westlich-christliche Welt hat erkannt, dass es sich besser lebt, wenn man sich nicht mehr bis aufs Blut bekämpft, sondern vorher den Vermittlungsausschuss anruft. Doch ebenjene Vermittlungsausschussmentalität tötet tendenziell diejenigen Affekte im Menschen ab, die ihn überhaupt erst zum Stellungbeziehen und Um-diese-Stellung-Streiten bringen.
Deshalb liefert unsere Politik – auch nach der Bundestagswahl – ein so paradoxes, zentrumsloses Bild: Auf der einen Seite erleben wir ein Abgrenzungs- und Erregungstheater, auf der anderen Seite kauft man die leidenschaftlichen Töne keinem Politiker mehr ab, weil klar ist, dass am Ende doch der sozialdemokratische Common Sense siegen wird, sich alle an einen Tisch setzen und einen nüchternen Kompromiss aushandeln werden.
Womöglich muss man – selbst nüchtern – konstatieren, dass dies der beste Zustand ist, den Politik erreichen kann. Gleichzeitig brauchen wir ein umso schärferes Bewusstsein, dass sich dieses Prinzip nicht grenzenlos auf alle Bereiche der gesellschaftlichen Auseinandersetzung ausdehnen darf. »Hass und Neid, Not und Begier« müssen im Streit ihren Platz behalten. Ein echter kultureller Fortschritt läge darin, die narzisstische Kränkung, vulgo: das ständige Beleidigtsein samt seinem Ruf nach der Unterlassungsklage, zu überwinden. Die Affekte, die jeder Streit benötigt und auf den Plan ruft, sollten ihren Ursprung nicht in der Verteidigung von prekären Egos haben, sondern in dem Willen, tiefe Überzeugungen zu verteidigen, die sich ihrerseits im Dissens zu gegnerischen Positionen geschärft haben. Frei nach Simmel: Das »primäre Feindseligkeitsbedürfnis« darf man in der Tat für ein unproduktives halten. Ohne sekundäres Feindseligkeitsbedürfnis jedoch, das aus inhaltlichen Antagonismen resultiert, sitzen wir alle im Zug nach Irgendwo. Es geht nicht darum, Randale um der Randale willen zu machen. Aber Randale um
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