Achtung Kurven
einen dicken Stapel von schwarzumrandeten Beileidsbriefen durch, die mit der Vormittagspost gekommen waren, »da ist noch ein Brief aus Kirst gekommen — für Sie, Herr Herold. Ich muß mich entschuldigen, daß ich ihn versehentlich geöffnet habe...«
Sie reichte ihm den aufgeschnittenen Umschlag hinüber. Er trat zögernd näher an den Schreibtisch heran und nahm ihr den Brief ab. Es war möglich, daß sie den Umschlag in der Meinung aufgeschnitten hatte, der Brief sei an sie gerichtet, denn er war »An Herrn Heinz Herold in Fahrschule Bauersfeld« adressiert. Der Umschlag trug in der linken unteren Ecke ein Wappenschild mit einem Straußen, und darunter den Aufdruck:
Gasthaus ZUM STRAUSSEN in Kirst
Besitzer: Eduard Sauter
Fremdenzimmer m. fl. Wasser
Eigene Schlachtung, gepflegte Biere der Schloßbrauerei Gräfenbroich
»Eine Reklame?« fragte er unsicher.
»Lesen Sie doch selber«, sagte sie, ohne ihn anzuschauen. »Kennen Sie den Inhalt?«
»Ja«, antwortete sie ruhig; »als ich merkte, daß der Brief nicht an mich gerichtet war, wollte ich ihn ungelesen in den Umschlag zurückstecken, aber dann war er doch zu interessant.«
Sie hielt es nicht für nötig, sich zu entschuldigen, und Herold spürte, wie ihm bei soviel Unverfrorenheit das Blut in den Kopf stieg. Er zog das Schreiben aus dem Umschlag, einen einfachen weißen Bogen, der beidseitig mit einer Handschrift bedeckt war, der man anmerkte, daß sie seit der Schulzeit wenig Gelegenheit gefunden hatte, sich zu üben. Die Schulmädchenschrift stand in einem merkwürdigen Gegensatz zu der Gewandtheit des Ausdrucks.
Sehr geehrter Herr Herold!
Ich weiß nicht, ob Marianne Ihnen gegenüber meinen Namen erwähnt hat. Wir kennen uns, seit unsere Mütter uns im Kinderwagen spazierenfuhren und haben seitdem keine, oder fast keine Geheimnisse voreinander. Was Marianne mir über Sie erzählt hat, läßt mich hoffen, daß ich nicht zu befürchten brauche, Sie könnten ihr etwas von diesem Brief erzählen.
Ich schreibe ihn nämlich ohne Mariannes Wissen, und ich glaube, sie wäre sehr böse, wenn sie erführe, daß ich meine Nase in Dinge stecke, die mich ihrer Meinung nach nichts angehen. Meiner Ansicht nach gehen sie mich etwas an, denn ich springe ins Wasser, wenn ich jemand darin zappeln sehe. Das ist natürlich nur eine Redensart, die nicht auf Marianne zutrifft, denn sie zappelt keineswegs im Wasser. Aber sie hat sich in gewisse Ideen verrannt, die ich für Hirngespinste halte. Eifersucht ist eben eine Leidenschaft, die mit Eifer sucht, was Leiden schafft. Damit habe ich schon mehr verraten, als ich verraten dürfte. Aber, daß Sie Marianne nicht gleichgültig sind, wird Ihnen ja nicht verborgen geblieben sein. Und nach allem, was geschehen ist, nehme ich an, daß auch Ihnen Marianne nicht gerade unsympathisch ist. Jetzt könnten auch Sie mich fragen, was mich das angeht. — Nun, ich finde, wenn das, was Marianne annimmt, ein Irrtum war, dann sollten Sie diesen Irrtum aufklären, ehe Marianne Dummheiten macht. Sie will nämlich Kirst verlassen und sich irgendwo in Frankfurt oder München eine Stellung suchen. Und das wäre eine unverzeihliche Dummheit! Denn früher, als Mariannes Vater noch lebte, war die Fahrschule Schütz eine Goldgrube. Und das könnte sie wieder werden. —
Ich habe lange gezögert, diesen Brief an Sie zu schreiben, und ich werde ihn, wenn ich ihn überhaupt abschicke, mit sehr gemischten Gefühlen in den Briefkasten werfen, denn es könnte ja sein, daß Sie tatsächlich anderweitig gebunden sind. In diesem Falle bitte ich Sie, diese Zeilen als nicht geschrieben zu betrachten.
Tilly Sauter
Herold sah im Augenwinkel, daß Frau Bauersfeld aufstand und um den Schreibtisch herumging. Er fühlte sich bis auf die Knochen blamiert und hätte die Tochter vom Straußenwirt in diesem Augenblick erwürgen mögen. Was mischte sie sich in Dinge ein, die sie nichts, aber auch gar nichts angingen! Und warum mußte sie diesen Brief so blödsinnig adressieren, daß er in die falschen Hände geriet! Er faltete den Bogen zusammen und schob ihn in die Tasche. Frau Bauersfeld ging zum Fenster und schaute über die halbe Scheibengardine auf die Straße hinaus.
»Ich habe mich natürlich nach Fräulein Schütz erkundigt«, sagte sie. Ihr Atem beschlug das Glas, und sie malte mit der Spitze des Zeigefingers einen Kreis, in den sie nach Kinderart zwei Punkte und zwei Striche setzte.
»Dann wissen Sie ja Bescheid!«
»Eine raffinierte Tour von
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