Acqua Mortale
mit den kriminellen Machenschaften in Zusammenhang gebracht. Ida hörte die Hunde bellen, sah auf die Kaminuhr, und der Ausdruck der Zufriedenheit wich einer säuerlichen Miene. Sie war zwar einundneunzig, aber ihr Gehör ließ sich nicht täuschen. Den Weg, den der Postbote nahm, erkannte sie noch heute an der Sequenz des Hundebellens in ihrer Straße. Sie erkannte den Weg und vor allem die typische Trödelei an dem zeitlichen Abstand zwischen dem kleinen giftigen Bastard an der Ecke zur Via Monte Nero und dem Dobermann der Riccis. Zwischen der Dogge der Zambonis und dem Rauhaardackel der Nachbarn. Früher wurde die Post zwei Mal täglich zugestellt, einmal morgens um halb sieben, einmal gegen Abend, um 18 Uhr. Jetzt kam sie nicht einmal am Montag pünktlich.
Sie nahm ihren Stock mit dem eleganten Elfenbeingriff, stemmte ihre 52 Kilogramm aus dem Lesesessel und trat ans Fenster. Der Postbote war ein junger Kerl mit Rastalocken und einer Tätowierung am Hals, der aufreizend langsam auf seinem gelben Fahrrad pedalierte und achtlos zurückgrüßte, wenn man ihn ansprach. Klagen über späte und manchmal unregelmäßige Zustellung wies er mit einem respektlosen Achselzucken zurück. »Da müssen Sie sich bei der Zentrale in Rom beschweren«, sagte er, »ich tue, was ich kann.« Ida Gasparotto war nicht dieser Ansicht.
»Die Post ist gekommen«, sagte Nadia, die Rumänin. Ida erwiderte kalt: »Ich weiß« und kam wie immer dem Hausmädchen zuvor, indem sie den Schlüssel vom Haken nahm, sich die Tür öffnen ließ und zum Briefkasten humpelte.
Zwei Flyer von Lokalpolitikern, eine Telefonrechnung, ein Bettelbrief von einer kirchlichen Organisation und ein Umschlag, dessen Anblick Ida einen Stromschlag bis in die Fingerspitzen jagte. Auf die kurze Distanz sah sie die Buchstaben nur verschwommen, sie waren zittrig und größer als früher, aber ihr war ein Schatten der Vergangenheit vor die Augen getreten und hatte in ihrem Herzen ein Stechen ausgelöst. Eine Mischung aus Rührung, Sehnsucht und ungläubigem Staunen. Der Herr schien sich ihres langen Leidens zu erbarmen. Sie setzte die Lesebrille auf, die an der goldenen Kette an ihrem Hals hing. Die Briefmarke zeigte einen bunten Vogel und stammte aus einem exotischen Land, aus Kolumbien. Die Handschrift, mit der die Adresse geschrieben war, wirkte dagegen vertraut und gleichzeitig fremd. »Per Alberto Gasparotto«, stand da. Der Brief war an ihren Sohn gerichtet. Er schrieb Alberto, nicht ihr! Sie hatte den Moment der Schwäche überwunden. Was hatte das zu bedeuten? Der Poststempel war verblasst, Bogotá und ein Datum, das nur ein paar Wochen zurücklag. Der Absender ließ keinen Zweifel zu: Ettore Gasparotto, ihr Mann. Er lebte. Er hatte all die Jahre gelebt.
Die Wut trübte ihren Blick. Dieser Verräter, dachte sie. Die Erinnerungen stiegen in ihr hoch, wie jeden Tag, aber diesmal hatten sie einen höhnischen Beigeschmack. Die harten Schläge an die Haustür, die Fensterscheiben, die splitterten. Ida, die halb nackt die Treppe hinabstürzte und sich dem zerlumpten Wegelagerer entgegenstellte, der sich »Kommandeur« nennen ließ. »Ihr habt ihn euch doch schon geholt! Was wollt ihr noch?« Die Plünderer nahmen Bilder und Teppiche mit, einer öffnete sogarseinen Hosenstall und pinkelte auf den Diwan. Ettore, der Hausherr, konnte sich nicht schützend vor seine Familie stellen, denn er war längst Opfer der Kommunisten geworden. Hatte Ida immer geglaubt.
Sie steckte den Brief in die Tasche ihres Hausmantels, kehrte in die Villa zurück und zog sich in ihr Arbeitszimmer zurück. Sie schloss ab und musste sich beherrschen, dass sie das Kuvert nicht einfach mit dem Fingernagel aufschlitzte.
Sie nahm den Brieföffner aus Ebenholz, Handarbeit aus Libyen, der ehemaligen Kolonie, und führte die Spitze in den Falz.
»Mein geliebter Alberto,
wenn Du diesen Brief liest, bin ich nicht mehr.
Ich schreibe Dir vor allem, um mich zu entschuldigen. Ich konnte Dir nicht der Vater sein, der ich Dir gerne gewesen wäre. Politische und geschichtliche Umstände haben es verhindert.
Als unsere Repubblica di Salò vor der militärischen Übermacht des Gegners und feiger Brudermörder kapitulierte, war für mich in Italien kein Bleiben mehr. Ich sah, wie es Kameraden erging, die vom Mob gelyncht oder in farcenhaften Prozessen zum Tod verurteilt wurden. Man hätte nicht nur meine, sondern auch Eure Existenz vernichtet. Und so musste ich in sicherer Entfernung bessere Zeiten
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