Adelheid von Lare: Historischer Roman um die Stifterin des Klosters Walkenried (German Edition)
Früchte oder Samen und sie wird im nächsten Jahr wieder an derselben Stelle zu finden sein.“ Ehrfürchtig hob sie die leicht behaarten Blätter bis dicht vor die Augen und sah die Wassertropfen im Morgenlicht blinken, die sich wie eine Perlenkette an den Blatträndern gesammelt hatten. Sie schnupperte an dem Kraut und lächelte zufrieden. Es roch nach nichts, ein deutliches Zeichen für den Liebfrauenmantel. Sie war sicher, die Pflanze an den gezahnten Blättern, deren Form an große Raubtiertatzen erinnerte, eindeutig erkannt zu haben und ersparte sich das unangenehme Zerkauen einer Kostprobe. Diese Blätter waren sehr bitter. Behutsam legte sie die Pflanze in den Weidenkorb, der neben ihr im feuchten Gras stand. Er war noch leer, die Arbeit hatte gerade erst begonnen. Sie blickte auf und suchte den Waldboden nach weiteren Pflanzen ab. Wo eine wuchs, fanden sich oft noch mehr … Mit erhitztem Gesicht, die Zungenspitze zwischen den Lippen, nahm sie ihren Grabstock aus dem Korb und steuerte auf eine hochgewachsene Pflanze zu, deren spitz zulaufende Blätter an kurzen Stielen aus dem Stängel herauswuchsen.
„Beinwell!“, murmelte sie erfreut. „Unser Vorrat geht zur Neige, du kommst wie gerufen. Wenn die Bauern heuer auf den Feldern arbeiten, gibt es wieder Fleischwunden, die schnell zum Heilen gebracht werden müssen.“
Doch diesmal hatte sie es nicht auf die grünen Teile des Krautes abgesehen. Vorsichtig lockerte sie die Erde rund um den Stängel und grub eine daumendicke braune Pfahlwurzel aus. Ein ungewöhnliches lautes Knacken ließ sie aufschrecken. Aus dem dichten Wald, der vor ihr lag, drangen Geräusche, wie sie nur Pferdehufe verursachen konnten. Erschrocken sprang sie auf, packte ihren Korb und rannte in Richtung Hütte, wo sie ihre Mutter wusste. Seit der unangenehmen Begegnung mit Fräulein Adelheids Pferd war sie vorsichtiger geworden.
Doch das Trommeln der Hufe wurde lauter und sie war nicht sicher, ob sie rechtzeitig bei der Mutter sein konnte. Atemlos blieb sie stehen und lauschte. Es mussten mehrere Reiter sein und sie schienen ein für diesen dichten Wald fast unmögliches Tempo zu haben, denn die Geräusche wurden bei jedem Atemzug lauter und bedrohlicher. Bis zur Lichtung, auf der die Hütte stand, war es noch ein gutes Stück und die Hufschläge auf dem Waldboden würden ihr eindeutig den Weg abschneiden. Gehetzt blickte sie sich um. Halb links vor sich sah sie einen umgeknickten Baum. Der Blitz musste ihn vor einigen Jahren getroffen haben. Das noch aufrecht stehende Stück Stamm und der abgeknickte Teil der riesigen Buche bildeten ein Dreieck, das vom Teufelszwirn überwuchert worden war. Voll panischer Angst rannte sie darauf zu und wühlte sich in die Pflanzenstränge hinein, die den Baum wie ein dicht gewebter Teppich überzogen hatten. Es war keinen Wimpernschlag zu früh, denn kaum hatte sie sich auf den Boden gekauert und den Kopf zwischen ihre Knie gezogen, da donnerten draußen schwere Pferde vorüber. Große Batzen modrigen Waldbodens wurden bis in ihr Versteck hinein geschleudert. Ihr Herzschlag stockte einen Moment, als sie begriff, dass die Pferde auf der Lichtung zum Stehen kamen, auf der die Hütte ihrer Mutter stand. Vorsichtig rutschte sie ein Stück nach vorn und drückte den dichten Pflanzenvorhang auseinander. Die Hütte konnte sie nicht sehen, sie war bewusst sehr versteckt gebaut, wohl aber die Stelle, wo der Wald sich lichtete und Platz für die kleine Wiese machte. Dafür konnte sie einigermaßen gut hören, denn die Männer, die inzwischen von den Pferden gesprungen waren, sprachen laut und unbeherrscht. Im harschen Befehlston rief einer nach ihrer Mutter und fragte etwas, was sie in ihrem Versteck nicht verstehen konnte. Die Mutter antwortete schnell und mit scharfer Stimme, wie immer, wenn sie wütend war. Jetzt sprach der Mann wieder, laut und bedrohlich, die Mutter fiel ihm ins Wort und diesmal hörte das Mädchen einen leichten Anflug von Panik in der wohlvertrauten Stimme. Ein Gefühl wie eine eiskalte Hand griff nach ihrem Herzen und sie war versucht, aufzuspringen und hinüber zu rennen, um der Mutter beizustehen. Aber eine lähmende Angst machte sie bewegungsunfähig und der Wind trug ihr Geräusche zu, die sie in ihrem Leben nie wieder vergessen sollte. Zunächst hörte sie das Klirren von mehreren Schwertern, die fast gleichzeitig gezogen wurden. Sie hörte die rauchige Stimme der Mutter, die laut und mit eisigem Unterton einen Fluch aussprach.
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