Adler und Engel (German Edition)
mich zu solchen Phantasien trieb.
Mit diesem rosa Mund spricht sie jetzt auf meinen AB.
Rufus hat angerufen und gesagt, dass du nicht mehr kommst, sagt sie.
Im Büro siezte sie mich immer. Ich habe vielleicht zehn Nächte bei ihr verbracht, nicht mehr. Zehn Nächte in zwei Jahren, und auch das nur, wenn ich es gar nicht mehr aushielt. Jedes Mal danach bereitete mir das Schuldgefühl körperliche Schmerzen. Maria argumentierte logisch, hatte aber trotzdem nicht recht, während sie bewies, dass es vollkommen normal sei, was ich tat. Ich brauchte nur zehn Sekunden lang Jessie zuzuhören, wie sie sich mit zerquältem Gesicht in ihre Beteuerungen hineinsteigerte: es würde nicht mehr lange dauern, bis sie es mit mir tun könne, nicht mehr lange, bald bestimmt. Ich solle sie nicht schimpfen. Dann hielt ich ihr den Mund zu, mit aller Gewalt, und wusste, dass Maria log und ich ein Teufel war. Maria ist die Einzige, die von Jessies Existenz in meinem Leben gewusst hat, und ich wurde die Angst nie ganz los, sie könnte eines Tages, aus welchen Gründen auch immer, bei Jessie anrufen, und ihr erzählen, dass ich in jenen zehn Nächten nicht wegen Arbeitsüberlastung im Büro übernachtet hatte.
Ich weiß natürlich, warum sie anruft. Man kann seelische Zustände verdrängen, aber nicht Jacques Chirac.
Hör zu, sagt Maria Huygstetten, ich weiß, dass wir nichts mehr miteinander zu tun haben werden. Keine Illusionen. Aber du kommst jetzt vorbei und holst den Hund.
Wahrscheinlich habe ich insgeheim gehofft, sie könnte sich an ihn gewöhnen und ihn behalten wollen. Falls ich überhaupt daran gedacht habe. Natürlich liebe ich Jacques Chirac. Aber er ist Jessies Hund, und er sollte tot sein wie sie. Wenn ich ihn sehe, muss ich daran denken, wie er sich morgens immer über uns beugte, auf seinen langen Beinen, die ihn tragen wie ein Gestell, und wie der Hautüberschuss in seinem Gesicht dabei von der Schwerkraft heruntergezogen wurde und ihm diesen gramvollen, verzweifelten Ausdruck verlieh. Wie laut Jessie immer gelacht hat über diesen Gesichtsausdruck, der eigentlich keiner war, sondern nur eine anatomische Besonderheit. Sie fasste seinen dicken Kopf mit beiden Händen und beutelte ihn, und ich stützte mich auf einen Ellenbogen und sah ihnen zu. Jacques Chirac freute sich jeden Morgen von neuem, uns beide wach und munter zu finden. Unser Schlaf muss für ihn wie ein befristeter Tod gewesen sein, von dem er nie sicher wusste, ob er wirklich enden würde bei Tagesanbruch. Jetzt kann ich seine Anwesenheit nicht mehr ertragen. Ich weiß, dass er immer noch denkt, Jessie würde vielleicht zurückkommen. Ich kann die Hoffnung nicht ertragen, mit der er vor der verrammelten Tür des Arbeitszimmers liegt, und wie er aufhorcht, wenn der Wecker drinnen zu piepsen beginnt. Jacques Chirac wartet.
Ich robbe, die Bettdecke hinter mir herziehend, zu dem Häufchen, das meine abgeworfene Jacke ist, ich finde das Koks und nehme es, schnell und viel, und lege mich zurück aufs Bett. Ich warte. Aber es geschieht nichts. Oder jedenfalls fast nichts. Bis Panik in mir aufsteigt. Es gibt Phasen, in denen die Wirkung nachlässt, und man muss eine Pause einlegen, um danach normal weitermachen zu können. Eine Pause von mindestens drei oder vier Tagen. Damit ist klar, was mir bevorsteht.
Ich schlüpfe in die Anzughose, die mir an den schwitzenden Schenkeln kleben bleibt, setze eine Sonnenbrille auf und verlasse das Haus. Es ist eine Odyssee. Trotz allem kann ich nicht anders, als mich auf Jacques Chirac zu freuen. Der Gedanke an ihn hilft mir, dem Starren der Leute und dem immer drängenderen Brüllen der Straße standzuhalten, er hilft mir, das Straßenbahnticket zu bezahlen und den Fahrplan zu entziffern. Wäre ich zum ersten Mal auf diesem Planeten, könnte ich nicht fremder sein.
Als sie die Tür öffnet, stürmt Jacques Chirac sofort an ihr vorbei und stürzt sich auf mich. Er legt mir die Pfoten auf die Brust, um mit der Zunge an mein Gesicht heranzukommen, und meine Beine halten sein Gewicht nicht aus, ich gehe in die Knie. Um mich wieder aufzurichten, stütze ich mich auf seinen Rücken. Dabei spüre ich, wie dünn er geworden ist. Er fühlt sich an wie ein Holzgerüst, über das ein Stück Tuch gespannt ist. Ich bin sicher, dass Maria versucht hat, alles für ihn zu tun. Meine Hand bleibt auf seinen Rücken gestützt, auch abgemagert ist er immer noch stärker als ich. Eine Art Schwächeanfall lässt mich keuchen. Ich stehe gebückt. Als
Weitere Kostenlose Bücher