Adler und Engel (German Edition)
ewige Nacht des Universums, von allen Seiten in die Sterne schauend. Vielleicht nehmen wir den Mond mit, er steht blass und schmal wie ein abgeschnittener Daumennagel am Himmel. Es geht mir besser. Vielleicht weil Mittwoch ist. Mittwoch und Sonntag sind die einzigen Tage, die ich erkenne. Etwas wie ein Fleck im Gesicht unterscheidet sie von den anderen, vollkommen gleich aussehenden Tagen. Der Fleck ist Claras Sendung. Vielleicht tritt auch endlich eine Verbesserung des biochemischen Zustands meines Gehirns ein. Vielleicht eine Ankündigung, dass ich bald den Drogenkonsum wieder aufnehmen kann.
Heerscharen von Motten schaffen es, in das geschlossene Gehäuse der Laternen einzudringen, dort zu verrecken und klumpige schwarze Muster an der Innenseite des Glases zu bilden. Ein Marder, geformt wie eine Salami auf Beinen, quert meinen Weg und verschwindet zwischen den parkenden Autos. Ich schlenkere meinen Frischhaltebeutel. In einer Nacht wie dieser hätte ich Jessie beim Nachhausekommen in der Wohnung gesucht, sie wahrscheinlich am Küchentisch gefunden vor dem offenen Fenster, die Beine um den Stuhl geschlungen und mit dem Finger den Zeilen eines ihrer Briefe mit österreichischer Marke folgend, die immer ohne Absender kamen und deren Asche ich manchmal im Becken der Spüle fand. Ich hätte ohnehin niemals versucht, einen dieser Briefe zu lesen, ich war sicher, dass sie von ihrem Bruder Ross kamen und dass sie nicht darauf antwortete.
Ich hätte ihr einen nächtlichen Spaziergang vorgeschlagen, und sie wäre sofort aufgesprungen mit einem Strahlen im Gesicht und dem unordentlich abstehenden gelben Haarkranz außen herum, der sie wie eine kleine Sonne aussehen ließ. Sie wäre nach ihren Turnschuhen gelaufen und hätte im Vorbeifliegen Jacques Chirac in die Rippen getreten, um ihn auf die Beine zu bringen. Draußen auf der Straße, umgeben von der staubigen Stadt, eingetaucht in laue, orangefarbene Luft, hätte sie meine Hand gegriffen und den Fingerkampf mit mir gespielt, bis sie meinen Mittel- und Ringfinger zu fassen bekommen und die Faust darum geschlossen hätte. Jeden anderen Griff schüttelte sie ab. Wir wären Hand in Hand gegangen und irgendwann an einer Tankstelle vorbeigekommen und sie hätte mich um ein Eis angebettelt und ich hätte es ihr gekauft. Magnum Weiß. Ich fasse in den Frischhaltebeutel. Es ist immer noch fest.
Jessie übte sich darin, ein Eis möglichst langsam zu essen. Sie biss nicht ab, sondern fuhr nur immer mit der Zunge darüber. Diese Technik machte mich wahnsinnig, ich konnte es nicht mit ansehen. Es ist völlig wirkungslos, an einem Eis mit geschlossener Schokoladenhülle nur vorsichtig herumzulecken. Irgendwann tropft unten in Stielnähe die Vanillesauce heraus, große glatte Schokoladenschollen brechen ab und fallen zu Boden. Wenn Jessie das Eis endlich erledigt hatte, klebte ihr ganzes Gesicht, die Hände erst recht, und auf den klebrigen Flächen blieb Straßenstaub hängen, auch herumfliegende Pollenschirmchen und manchmal eine Mücke. Sie war glücklich, jedenfalls sah es für mich so aus.
Ich bleibe stehen und fasse mir an den Hals. Für einen Moment bekomme ich keine Luft, ich kenne das, ein Stechen dicht über dem Kehlkopf, dann ein enormer Hustenreiz, aber kein Atem zum Husten. Ich zwinge mich zur Ruhe und versuche, meinen Hals zu entspannen. Es gelingt. Beim anschließenden Husten beuge ich mich vornüber, stütze beide Hände auf die Knie und glaube, meine Lungen auszustülpen wie ein Paar Socken, die eingerollt und knotig aus der Waschmaschine gekommen sind. Jacques Chirac steht neben mir und sieht mich unbewegt an. Ich fingere eine Zigarette aus der hinteren Tasche meiner Hose und stecke sie an. Der Schmerz in den Lungen, als der Rauch über die gereizten Flächen streicht, tut mir gut. Er bringt mich in die Gegenwart zurück und weg von Eis und Glück. Zurück in diese Nacht, in der es darum geht, ein Speiseeis loszuwerden, das ich aus Dummheit eingekauft habe, in der ich auf meinen Weg achten muss, wenn ich Claras Sender finden will.
Ich versuche, an Clara zu denken, daran, dass sie bestimmt abends Getreidekörner zum Einweichen fürs Frühstück ins Wasser legt, dass sie sonntagmorgens um zehn zu Technoparties geht und niemals Weichspüler benutzt für eine Waschmaschinenladung mit Jeans. Aber ich kann mich kaum an ihr Gesicht erinnern. Ich habe ein paar Tage lang schwitzend und stöhnend dem Straßenverkehr zugehört und jede Stunde davon war wie eine Woche.
Ich
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