Adler und Engel (German Edition)
habe sie vor die Tür gesetzt und nach zehn Minuten klingelt es wieder.
Bevor ich gehe, sagt sie, möchte ich doch gerne mein Haarband zurück.
Ich bin müde. Sie bringt einen kühlen Luftzug aus dem Treppenhaus mit herein. Die Haare hängen ihr ins Gesicht. Ich zeige auf das Aluminiumschränkchen und gehe in die Küche. Ich höre, wie sie es beiseite schiebt. Es dauert lange, bis sie das nächste Mal spricht.
Ist das eigentlich normal, fragt sie, wenn bei dir in der Wohnung die Dielen zersägt sind?
Ich schaue über den Flur. Der Telephonschrank steht immer noch von der Wand abgerückt, das Radiomädchen beugt sich über den Boden. Ihr Zopfgummi hat sie gefunden, sie trägt jetzt wieder Pferdeschwanz. Erst will ich gar nicht hingehen, es ist offensichtlich, dass sie den allerkleinsten Anlass nutzt, um mir noch ein paar Minuten länger auf die Nerven fallen zu können.
Dann komme ich doch näher.
Wir stehen nebeneinander wie Freunde und gucken auf das Loch. Es ist rechteckig und hat unglaublich stümperhaft ausgeführte Schnittkanten, mit denen es wie die Laubsägearbeit eines Schulkindes aussieht. In einer Ecke befinden sich mehrere Bohrlöcher, die gemeinsam den Ansatzpunkt für die Säge gebildet haben müssen. An den beiden kurzen Enden sind von unten schmale Pappstreifen in die Öffnung geklebt, die den ausgesägten Deckel trugen, ein etwa vierzig Zentimeter langes Dielenstück, das Clara herausgehoben hat. Sie muss starke Daumennägel haben. Jessie hatte auch so starke Daumennägel. Krampfhaft versuche ich mich zu erinnern, wann das Schränkchen zuletzt bewegt worden ist. Mir fällt keine einzige Gelegenheit ein. Folglich kann sich das Geheimfach schon seit unserem Einzug in die Wohnung dort befinden, seit maximal zwei Jahren. An diesem Loch erkenne ich Jessies einzigartige Naivität – zu glauben, etwas so schlecht Verstecktes könne nicht gefunden werden. Eine Naivität, von der sich der Zufall korrumpieren lässt, so dass letzten Endes Raffinesse dabei herauskommt.
Ich war sicher, alles, was zu Jessie gehört hat, in den beiden Zimmern eingeschlossen zu haben, spurlos getilgt. Jetzt gibt es hier etwas von ihr, das erstens unerträglich typisch für sie ist und sich zweitens nicht wegräumen lässt. Ein Loch. Es schmerzt so sehr, dass ich mich abwenden muss. Ich schenke das Loch dem Radiomädchen.
Ich gehe ins Wohnzimmer und fange an, zerknüllte Taschentücher und Zigarettenkippen vom Boden aufzuheben. Clara zieht draußen im Flur etwas aus dem Loch, es raschelt und hört gar nicht mehr auf. Ich öffne das Fenster, werfe die Kippen und die Taschentücher hinaus und lehne mich über die Fensterbank, so dass ich nichts mehr hören muss außer dem Verkehrslärm. Wenn die Straßenbahn vorbeifährt, oder einer der Baustellenlaster mit klappernder Ladefläche, vibriert die Fensterbank und ich mit ihr, und ich genieße es, für ein paar Momente mein eigenes Zittern nicht spüren zu müssen. Draußen ist es noch viel heißer als in der Wohnung. Ich befeuchte die Lippen, um eine filterlose Zigarette dazwischenschieben zu können, und als sie brennt und ich sie in die Hand nehmen will, bleibt sie an meiner Unterlippe kleben. Ich verbrenne mir die Fingerknöchel an der Glut, reiße die Zigarette von der Lippe los, ein kleiner Fetzen Haut bleibt am Papier hängen. Der Rauch sticht in den Lungen, als wäre er künstlich aufgeheizt worden, mein eigener Schweiß brennt mir in den Augen. Unten betrachten zwei kaum bekleidete dreizehnjährige Mädchen den Teppich aus Taschentüchern und Kippen auf dem Bürgersteig, dann schauen sie zu mir hoch. Ich spucke aus. Es ist heiß.
Die Silhouette aus Schornsteinen, Erkern und Antennen auf der anderen Straßenseite, mit einzelnen Lichtern dazwischen, könnte beinahe einem Ozeandampfer gehören. Dahinter verströmt die Sonne rote Farbe in den Himmel, als hätte sie Nasenbluten und nicht ich. Gleich wird die Welt den Kopf zurücklegen und sich die Nacht als ein kühles Tuch in den Nacken pressen. Ich gebe mir selbst kleine Ohrfeigen, rechts und links. Die Straßenbahnen winden sich, von innen erleuchtet, zwischen den Häuserreihen hindurch. Vielleicht habe ich geschlafen, bäuchlings über der Fensterbank.
Im Flur hockt das Radiomädchen auf dem Boden. Ich dachte, sie sei längst weg. Als nächstes sehe ich den schräg stehenden Telephonschrank und das hässliche Loch. Das Radiomädchen ordnet Geldscheine zu Stapeln, die sie in Zehnerreihen sammelt, der halbe Flur ist damit
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