Adler und Engel (German Edition)
außergewöhnlich schön und bunt, sich vollsaugen und schließlich sinken. Nichts. Einfach sitzen bleiben, im knöcheltiefen Wasser, zwischen den farbenfrohen Fetzen einer großen, seltenen Blume, zwischen den Fetzen Jessies letzter Grabstätte. Einfach sitzen bleiben.
Der Regen hämmert mir auf die Schädeldecke. Auf Claras haarlosem Kopf, wo immer der jetzt ist, muss es nur so spritzen. Ich stelle mir vor, sie könne sich noch da draußen befinden, nicht weit von mir, irgendwo in der Stadt, und in das fallende Wasser starren, wahrscheinlich im Winkel einer Brücke, wo sie darauf wartet, dass der Regen aufhört. Eigentlich bleibt es mir überlassen, ob ich sie für tot oder lebendig halten will. Keine leichte Entscheidung. Wenn sie tot sein sollte, dachte sie in ihrem letzten Moment jedenfalls nicht an mich, sondern an das Handtuchpferd auf ihrem Balkon, an die Stille nachts in ihrer Glaskabine und an die Kabel der Mikrophone oder an ihren Professor. Und das spricht für sie. Es spricht wirklich für sie. Gleichzeitig mit einem unbestimmten Schmerz, der mich in zwei Hälften teilt, spüre ich, wie ein Lächeln auf meinen Lippen entsteht und nur ganz langsam wieder verschwindet.
Als Jacques Chirac zu mir kommt, liege ich ruhig auf dem Rücken. Das Wasser kühlt meinen Hinterkopf, ist mir tief in die Ohren gelaufen und hat meine Handflächen und Fingerspitzen zu weißen, schwammigen Polstern aufgeweicht. Mir ist kalt, ich wusste kaum noch, wie schön es sein kann zu frieren. Der scharfe Geruch von Kotze sticht mir in die Nase, das kommt aus meinem eigenen Mund, aus meinem eigenen Hemd. Der Hund beugt sich über mich, und die viele Haut in seinem Gesicht, von der Schwerkraft nach unten gezogen, verleiht ihm diesen grämlichen Ausdruck, über den ich auch jetzt wieder lachen muss, auch weil seine Ohren so komisch nach vorne klappen, diese weichen, nassen Ohren, innen samtig und rosa-schwarz gefleckt. Eins davon falte ich um, der Hund schnauft glücklich, weil ich ihn anfasse. Ich setze mich auf. An der Innenseite des Ohrlappens befindet sich eine Tätowierung, eine vierzehnstellige Nummer. Jessie hat sie dort anbringen lassen, das war mir entfallen. Cooper, hatte sie gesagt, das ist wirklich sicherer, viel sicherer. Eine ganz einfache Zahlenkombination eigentlich, es sind drei Geburtsdaten, erst meins, zum Schluss Jessies, und das in der Mitte erkenne ich auch: es ist Shershahs. Ich war der älteste von uns dreien, und offensichtlich derjenige, der am längsten lebt.
Der Hund lässt sich neben mich fallen, kreisförmige Wellen breiten sich um ihn herum aus. Ich warte, bis er still liegt, dann verharren wir eine Weile so: ich sitzend, er liegend, eng beieinander, wie Inseln umgeben von der regenrauhen Wasseroberfläche.
Vorsichtig lege ich ihm eine Hand über das rechte Auge und er wendet mir das Gesicht zu und stützt den Kopf auf mein angewinkeltes Bein. Den kleinen Finger reibe ich leicht über seine Stirn, während ich zwischen Zeige- und Mittelfinger die Klinge des Messers klemme, so dass sie mit der Spitze auf das geschlossene Lid zielt und genau über seinem Auge steht. Er rührt sich nicht. Ich lege den Kopf in den Nacken, schaue in den Regen und lasse die Faust auf den Messergriff fallen. Jessie wird so glücklich sein, wenn der Hund bei ihr ankommt.
Als ich die Hände abreiben will, nachdem ich Jacques Chiracs Körper über den Brunnenrand gehievt habe, finde ich unter dem Handtuch Claras Mobiltelephon. Die Nummer von Ross befindet sich im gespeicherten Verzeichnis.
Schon nach dem zweiten Klingeln ist er dran.
Ich nenne jetzt meinen Preis, sage ich.
Du bist immer für eine Überraschung gut, sagt Ross.
Ihr könnt jemanden für mich finden, sage ich. Falls ihr sie nicht sowieso schon habt, versucht es am Westbahnhof. Wenn es dort voll ist oder dunkel, erkennt ihr sie leicht am geschorenen Kopf, der aus der Menge herausleuchtet. Darin habt ihr ja Übung.
Und dann?, fragt Ross.
Ihr bringt sie her, sage ich, und lasst sie ab jetzt in Ruhe. Dafür bekommt ihr die Nummer.
Bis gleich, sagt Ross.
Weil der nasse Stoff auf der Haut zu jucken beginnt, ziehe ich die Hose aus, das Hemd auch, und setze mich nackt auf die Mauer im Hof. Es ist ein guter Moment, um sich waschen zu lassen. Ich führe die Hände im Schoß zusammen und betrachte sie aufmerksam, sie sind mir bekannt und vertraut, die Finger formen sich zu einer Schale, die leer ist und leer bleibt, nicht einmal geeignet, das hineintropfende Wasser zu
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