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Adler und Engel (German Edition)

Adler und Engel (German Edition)

Titel: Adler und Engel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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und überlegt, ob mein Bart schon wieder gewachsen ist, und wenn ich ihn in die Küche lasse, während ich nach Kleingeld suche, gerät er außer sich vor Begeisterung darüber, dass die Spüle an Ketten von der Decke hängt und der Herd aus Sandstein gemauert ist. Einmal hat er im Treppenhaus versucht, mir an den Arsch zu fassen, und als ich ihn wegstieß, ist er rückwärts die Stufen runtergefallen. Er kommt trotzdem wieder, jeden Tag außer sonntags, ich weiß nicht, wie oft schon.
    Huhu, sagt sie, wo es passiert ist?
    Sie lächelt. Dieses Lächeln passt zu ihrer Stimme wie ein bequemes Kleidungsstück, und die Stimme geht einmal durch den Raum und stellt sich neben mich und tippt mir auf die Schulter. Jetzt spüre ich es auch: diesen Wunsch zu heulen. Genau wie die anderen. Aber nein. Nicht mehr. Nie wieder.
    Heulen war schon. Zwei Tage und Nächte lang ohne Unterbrechung, ohne Schlaf, ohne mich vom Boden des Zimmers zu erheben. Alle paar Stunden, immer wenn meine Augen so ausgetrocknet waren, dass sie sich wie aufgestochene Brandblasen anfühlten, trank ich einen Schluck Wasser aus der halbvollen Flasche, die herumstand und aus der auch Jessie getrunken haben musste, bevor sie es tat. Ich hatte sie sogar schlucken gehört, am Telephon, ich hatte gehört, wie Wasser aus genau dieser Flasche von den Muskeln in ihrem Hals durch die Kehle gedrückt wurde.
    Mit dem bisschen Flüssigkeit gelang es mir, neue Tränen hervorzubringen, und als die Flasche ausgetrunken war, glaubte ich sicher, blind zu werden. Das war mir willkommen. Ich hatte ohnehin nicht vor, jemals wieder die Augen zu öffnen. Zur Hälfte taub war ich schon, meine linke Hand presste ich unablässig gegen das linke Ohr, von dem ich wusste, dass darin die Fetzen meines geplatzten Trommelfells herumflatterten wie Vorhänge an einem offenen Fenster. Auch das war mir willkommen. Ich heulte ohne Feuchtigkeit weiter, mein Körper lag auf den Dielen, erst zusammengekrampft und hart wie ein Holzklotz, später schlaff wie ein abgeworfenes Kleidungsstück. Ich hoffte, aus eigenem Antrieb zu sterben. Stattdessen schlief ich ein, irgendwann. Als ich wieder aufwachte, irgendwann, tastete ich mich in die Küche zum Kühlschrank und entnahm dem Gefrierfach ein Siegel Koks, und weil meine Nase mit sich selbst verwachsen war zu einem festen Klumpen, ohne jede Öffnung, riss ich den Mund auf und warf das Koks hinein und schluckte schnell, bevor mir der Hals so taub wurde, dass das Schlucken nicht mehr ging. Dann ging ich aus der Wohnung, ließ die Tür offen stehen und verließ das Haus. Das ist etwa acht Wochen her. Seitdem habe ich keine Träne mehr vergossen und auch nicht das Bedürfnis danach verspürt. Bis jetzt. Das Radiomädchen hat mit Sicherheit ein besonderes Talent. Für einen Moment denke ich, dass alles gut wird.
    Im Arbeitszimmer, sage ich.
    Sie guckt durch die offene Küchentür schräg über den Flur. Eine der beiden Flügeltüren ist mit Brettern vernagelt. Sie schaut noch eine Weile hin und nimmt aus Versehen den ersten Schluck von ihrem Kaffee. Es vergeht eine halbe Ewigkeit, während der sie beweist, dass ihre Finger klein genug sind, um drei davon durch den Henkel der Tasse zu schieben.
    Woher kanntest du sie denn, fragt sie.
    Ich hab sie in den Trümmern einer eingestürzten Stadt gefunden, sage ich.
    Als sie mir unvermittelt ins Gesicht sieht, erkenne ich, was mit ihren Augen los ist: Blau sind sie beide, aber das eine wie Wasser und das andere mehr wie Himmel.
    Bisschen komisch bist du schon, sagt sie.
    Du hast ja keine Ahnung, was in dieser Welt abgeht, sage ich, und wenn ich es dir erzählte, würdest du es nicht glauben.
    Nee, sagt sie ironisch, schließlich lebe ich auch erst seit dreiundzwanzig Jahren.
    Jetzt hat sie mich wohl darüber informiert, wie alt sie ist. Zehn Jahre jünger als ich. Wenn es überhaupt stimmt.
    Du lebst in einer anderen Zone, sage ich. Du kriegst das nicht mit.
    Vielleicht solltest du mal darüber sprechen, sagt sie.
    Und du, denke ich, solltest vielleicht mal bäuchlings über einen Couchtisch geworfen und kräftig durchgevögelt werden. Nur nicht von mir. Den Job kann ein anderer haben.
    Ich erklär’s dir, sage ich.
    Sie fummelt an meiner Pfeffermühle herum. Wahrscheinlich stellt sie sich vor, es sei ein Mikrophon, weil sie nicht zuhören kann, wenn sie kein Mikrophon vor sich hat. Mir fällt ein, dass die Leute beim Radio mit einem Kopfmikrophon arbeiten und dass das nicht aussieht wie eine

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