Adler und Engel (German Edition)
willst du eigentlich gerade von mir, verdammt noch mal?
Das ist eine ausgezeichnete Frage. Ich fühle mich von ihr hintergangen, verarscht, aber das ist eigentlich nichts Neues. Schlimmer ist das Gefühl, auf einer Kante zu sitzen, am Rand einer Stadt, die Beine über einem bodenlosen Abgrund ins Leere baumelnd, während sich hinter mir alle Farben in Grau verwandeln, die Straßen versiegen, die Häuser stufenweise im Boden versinken, die letzten Lichter abgetragen werden von einem gleichmäßigen, durch nichts gebremsten Wind. Und ich sehe mich selbst, wie ich in Kürze ameisengleich in unregelmäßigen Bahnen über die leere Fläche kriechen, mit den Händen den Boden abklopfen und dabei flüstern werde: Zement, es ist alles Zement. Was ich will, ist, dass Clara mich nicht allein lässt.
Nichts, sage ich. Ich weiß nicht. Verstehen, was du gemacht hast und warum.
Endlich hebt sie mal das Gesicht und sieht mich an. Plötzlich kapiere ich nicht mehr, warum ich ihre Glatze so gemocht habe, sie sieht schrecklich aus damit, sie ist mir völlig fremd. Ganz leblos.
Was würdest du sagen, fragt sie, wenn du erfährst, dass ich nicht mehr lange zu leben habe? Dass ich krank bin? HIV-infiziert?
Ich trete zwei Schritte zurück, erfasse ihre Gestalt ganz mit dem Blick, zusammengesunken, wie sie da sitzt, mehr ein Paket als ein Mensch.
Ich würde besser begreifen, sage ich.
Siehst du, sagt sie. Bin ich aber nicht. Ich bin kerngesund. Und deshalb wirst du nie irgendwas verstehen.
Etwas packt mich, das ist die nackte Verzweiflung, glaube ich.
Clara, sage ich, liebst du mich?
Jetzt überlegt sie nicht mehr.
Was ich für dich empfinde, sagt sie, ist Verachtung, Mitleid und vielleicht ein bisschen Hass.
Mitleid, sage ich, wunderbar, das ist die ideale Voraussetzung für eine lange und enge Bindung.
Sie lacht auf, oder eigentlich ist es mehr ein Fauchen.
Du spinnst ja, sagt sie.
Irgendwie dachte ich, sage ich, wir teilten letztlich doch etwas.
Falsch gedacht, sagt sie. Aber ich kann dir noch etwas sagen. Etwas wirklich Wichtiges, wichtiger als die ganze Scheiße hier. Es wird dich vielleicht freuen.
Bitte, flehe ich, sag es mir.
Lass uns zusammen nach Leipzig zurückgehen, denke ich, lass uns nach Südamerika gehen, oder nach Grönland, nein, nicht nach Grönland, okay, von mir aus und in Gottes Namen auch nach Grönland, lass uns ein Glas Wein ausleeren und prüfen, welchem Kontinent der Fleck ähnelt, lass uns dahin gehen.
Sie schweigt noch ein bisschen, dann hebt sie ihren leuchtenden Blick zu mir auf.
Meine Diplomarbeit, sagt sie, die ist so gut wie fertig. Du kannst sie dir dann aus dem Internet runterladen. Von überall aus.
Oh verdammte Scheiße, flüstere ich.
Sie erhebt sich und dehnt den Rücken, während ich in die Knie gehe, es ist, als säßen wir gemeinsam auf einer Wippe. Und ich bin schwerer. Ich schaue sie von unten an. Es ist gar nicht die Glatze, die sie so fremd aussehen lässt, sondern der zufriedene Ausdruck auf ihrem Gesicht, ruhig und selbstbewusst, geklärt wie nach Durchlaufen einer Katharsis.
Ich hab auch noch was Interessantes für dich, sage ich.
Sie hält in der Bewegung inne, da ist jetzt die Verachtung.
Nee, Max, sagt sie, du hast nichts Interessantes mehr, du bist nur noch ein Phantomschmerz deiner eigenen Existenz.
Ich will nur, dass du weißt, sage ich, dass wir eben doch etwas teilen. Wir werden beide gleichermaßen verarscht.
Hier kommt das Mitleid, ihre Augenbrauen ziehen sich zusammen, die Mundwinkel nach unten.
Du von mir, sagt sie, aber ich nur von Gott. Das ist ein Unterschied.
Ich habe eine Botschaft für dich von deinem Prof, sage ich. Sie muss darstellerisch übermittelt werden.
Sie sieht mich unverwandt an. Ich stehe auf, schlage mir beide Hände aufs Herz und äffe Schnitzlers Stimme nach.
Max, rufe ich, Sie haben wirklich ganz außerordentliche Dinge erlebt. Erzählen Sie Ihre Geschichte einem Profi, NICHT einer AMATEURIN!
Ihr Hirn arbeitet einwandfrei. Ich sehe es an ihren Augen, dass sie sofort kapiert. Etwas bricht.
Das, flüstert sie, hättest du mir sagen müssen.
Und da ist der Hass, gleich wird sie hysterisch. Sie hat eine harte Zeit hinter sich, und es gibt eben doch noch Fässer auf der Welt, die wie eh und je von Tropfen zum Überlaufen gebracht werden. Ihre Hände fahren zu Krallen gekrümmt in die Luft, und ich will sie packen, aber sie richtet sie nicht gegen mich, sondern schlägt sie sich in die Haut der eigenen Backen. Fast hätte sie
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