Adrenalin - Robotham, M: Adrenalin - The Suspect
bei meiner zweiten Verabredung mit ihr verhaftet worden ist, weil sie auf einen Fahnenmast geklettert ist und die südafrikanische Flagge heruntergeholt hat?«
Julianne wirft mir einen wütenden Blick zu. »Erzähl ihr das nicht!«
»Bist du wirklich verhaftet worden?«
»Ich wurde verwarnt. Das ist nicht das Gleiche.«
Zwei Kartons stehen auf dem Dachgepäckträger, zwei im Kofferraum und zwei auf dem Rücksitz. Feine Schweißperlen wie poliertes Glas zieren Charlies Oberlippe. Sie zieht ihre Skijacke aus und stopft sie zwischen die Sitze.
Ich wende mich noch einmal zu Julianne um. »Bist du sicher, dass du nicht mitkommen willst? Ich weiß, dass du eigentlich willst.«
»Und wer stellt die Kaution für uns?«
»Das macht deine Mutter.«
Sie kneift die Augen zusammen und stellt ihre Kaffeetasse hinter der Tür ab. »Aber ich tue es nur unter Protest.«
»Wird vermerkt.«
Sie streckt die Hand aus, damit ich ihr die Wagenschlüssel gebe. »Und ich fahre.«
Sie schnappt sich eine Jacke von der Garderobe im Flur und zieht die Tür zu. Charlie zwängt sich zwischen die Kartons auf dem Rücksitz und beugt sich aufgeregt vor. »Erzähl mir noch mal die Geschichte«, sagt sie, als wir uns in den leichten Verkehr auf der Prince Albert Road am Regent’s Park einfädeln. »Und lass nichts aus, bloß weil Mum dabei ist.«
Ich kann ihr nicht die ganze Geschichte erzählen. Ich kann mich nicht einmal selbst an alle Einzelheiten erinnern. In ihrem Mittelpunkt steht meine Großtante Gracie – der wirkliche Grund, warum ich Psychologe geworden bin. Sie war die jüngste Schwester meiner Großmutter mütterlicherseits und ist im Alter von achtzig Jahren gestorben, nachdem sie beinahe sechzig Jahre lang keinen Fuß mehr vor ihre Haustür gesetzt hatte.
Sie lebte eine Meile von meinem Elternhaus entfernt in West London, in einem großen, alten, frei stehenden viktorianischen Haus mit kleinen Türmchen auf dem Dach, eisernen Balkonen und einem Kohlenkeller. Die Haustür hatte zwei rechteckige Bleiglasfenster. Wenn ich meine Nase dagegen drückte, sah ich
Dutzende gebrochener Bilder von Tante Gracie, die den Flur hinuntereilte, weil sie mein Klopfen gehört hatte. Sie öffnete die Tür gerade weit genug, um mich hereinzulassen, und schloss sie dann eilig wieder.
Sie war groß und knochig mit klaren blauen Augen und hellem Haar, das mit den Jahren von weißen Strähnen durchzogen wurde. Sie trug immer ein langes schwarzes Samtkleid mit einer Perlenkette, die vor dem dunklen Stoff zu leuchten schien.
»Finnegan, komm! KOMM! Joseph ist hier!«
Finnegan war ein Jack Russell, der nicht bellen konnte. Sein Kehlkopf war bei einem Kampf mit einem Schäferhund aus der Nachbarschaft zertrümmert worden. Anstatt zu bellen, schnaufte und keuchte er, als ob er bei einem Pantomimentheater für die Rolle des großen bösen Wolfs vorsprechen würde.
Gracie sprach mit Finnegan, als ob er ein Mensch wäre. Sie las ihm Geschichten aus der Zeitung vor oder stellte ihm Fragen zu lokalen Angelegenheiten. Sie nickte, wenn er mit einem Schnauben, Keuchen oder einem Furz antwortete. Finnegan hatte sogar seinen eigenen Stuhl am Tisch, und Gracie steckte ihm heimlich Kuchenstückchen zu, während sie sich gleichzeitig dafür schalt, »das Tier von Hand zu füttern«.
Wenn Gracie Tee ausschenkte, goss sie meine Tasse immer halb voll Milch, weil ich zu jung war, das unverdünnte starke Gebräu zu trinken. Wenn ich auf den Stühlen am Esstisch saß, reichten meine Füße kaum auf den Boden, und wenn ich mich zurücklehnte, ragten meine Beine unter dem weißen Spitzentischtuch hervor.
Als ich Jahre später längst mit den Füßen auf den Boden kam und mich bücken musste, um Gracie auf die Wange zu küssen, goss sie meine Tasse immer noch halb voll Milch. Vielleicht wollte sie nicht, dass ich erwachsen wurde.
Wenn ich direkt von der Schule zu ihr ging, ließ sie mich neben sich auf der Chaiselongue Platz nehmen und fasste meine Hand. Sie wollte alles über meinen Tag wissen. Welche Spiele
ich gespielt hatte. Womit meine Butterbrote belegt waren. Sie saugte die Details auf, als würde sie sich jeden meiner Schritte vorstellen.
Gracie war eine klassische Agoraphobikerin – sie hatte Angst vor offenen Plätzen. Nachdem sie es leid war, meine Fragen abzuwimmeln, hat sie einmal versucht, es mir zu erklären.
»Hattest du schon einmal Angst vor der Dunkelheit?«, fragte sie.
»Ja.«
»Was hast du geglaubt, was passieren würde, wenn das Licht
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