Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition)
Prolog
Am Abend seines Todes saß Maximilian von Kampen auf der Terrasse seines Hauses und blinzelte in die tief stehende Sonne, die groß und rot über dem Meer stand. Er schaukelte das Kind, das auf seinem Schoß schlief, das Kind, das seinen Vornamen trug (Maximilian, was für ein altmodischer Name!) . Sein Sohn, nein, verbesserte er sich, sein Enkel, sein Urenkel. Und doch war es in gewisser Weise das Gleiche, auch wenn er seinen Sohn nie geschaukelt hatte und auch seinen Enkel nicht. Die Dinge in meinem Kopf beginnen zu verschwimmen, eine ganze Weile schon, dachte er. Sie gingen ineinander über, Köpfe, die sich über andere Köpfe legten, Gesichter, die anderen ähnelten, mit ihnen verschmolzen, bis nur noch eine Hand voll Menschen seine Welt bevölkerte, Räume, Wohnungen, ganze Häuser, die sich miteinander versöhnten und zu den labyrinthischen Stätten seiner Träume wurden. Zeitlebens hatte er von endlosen Gebäuden geträumt: Gänge mit unzähligen Türen, Treppen, denen er hinauf- und hinabfolgte, stets auf der Suche nach etwas, und doch musste er vor dem nächsten verschlossenen Durchgang einhalten, um einen neuen Weg zu finden. Seine Mutter fiel ihm ein, die kurz vor ihrem Tod die eigenen Kinder verwechselte und ein Zimmer erfand, dass es schon zwanzig Jahre nicht mehr gab.
Über ihm senkten sich die großen schwarzen Vögel auf dem Weg zu ihrem Horst. Sie flogen eine lange Schleife über das Meer, um schließlich in die Spalte des Horizonts einzutauchen und verschluckt zu werden. Er sah ihnen nach. Er dachte an den Vater des Kindes, das in seinem Arm schlief, an Pierino, und wie immer, wenn er ihn vor sich sah, ihn sich vorstellte, ernst auf seine Anzeigen starrend im Pilotensitz jenes seltsamen Flugzeugs mit dem riesigen Schirm auf dem Rücken, zog sich etwas in ihm zusammen.
Der alte Mann streichelte das Ärmchen des Kindes. Es fühlte sich kühl und glatt an. Die Haut war weich, und er konnte sie drücken und spüren, wie sie den Druck erwiderte, als sei das Leben in ihr tatsächlich so stark, dachte er, als sei sie so voll davon, dass sie es nur mit Mühe zurückhalten konnte. Seine eigene Hand dagegen war weiß und fleckig, trocken wie ein abgestorbener Ast.
Es war der Abend seines Todes, und ohne die genaue Stunde zu kennen, war er sich dessen bewusst wie jeder, der ein Alter erreicht hat, in dem es keine Rolle spielt, ob es noch ein Tag ist, der bleibt, eine Woche oder ein Monat.
Durch Maximilians dünne Baumwollhosen stach die Kälte des abendlichen Frühlings. Die Terrassentür war noch geöffnet. Aus dem Innern des Hauses drang die leise Stimme von Pierinos Frau, die mit Annalisa sprach. Bald würde sie das Kind holen. Vielleicht, um diesen Zeitpunkt hinauszuzögern, fasste er den Kleinen fester und stand auf. Zwischen den Oleandern und Geranien hindurch ging er mit kurzen, unsicheren Schritten auf die hintere Terrasse hinaus. Hier war es noch ein wenig dunkler. Nur oben, oberhalb der tausend Meter glühten die Berge im Restlicht der im Meer versunkenen Sonne, brannten die weißen Geröllhalden, die glatten, senkrechten Wände der Steinbrüche in einem rauchlosen Feuer. Das Kind an sich gedrückt, sah er hinauf, folgte dem weiten Halbrund der Kämme nach Norden bis an die Stelle, an der sie sich verzweigten. Eine niedrige Hügelkette schob sich aufs Meer hinaus. Jenseits davon, in einer tief eingeschnittenen Bucht, lag die Hafenstadt. Davor ein schmales Tal, das mit dem Fluss von den Bergen hinabstieg und sich zu einem kleinen Delta verbreiterte.
Der Fluss. Dorthin blickte er lange. Seine Augen tränten, als er versuchte, den grauen Dunst zu durchdringen, durch das Dunkel hindurch die Olivenbäume zu erahnen auf ihren Terrassen, die Kastanien oberhalb davon, das undurchdringliche Gestrüpp, das nach Rosmarin roch und nach Brombeeren. Ein Schleier hatte sich über seinen Blick gelegt, und vielleicht war es die Anstrengung, mit der er sich zu erinnern versuchte, die seine Beine zittern ließ.
Das Kind in seinem Arm bewegte sich, öffnete und schloss den Mund mit einem leisen Schmatzen. Auch er selbst hatte Hunger, aber es war nur ein Ziehen in der Magengegend, das er verspürte, fremd und ohne Bedeutung, fast so, als gehöre es nicht mehr zu ihm. Noch immer starrte er hinauf zu den Bergen. Die wenigen Lichter der Bergdörfer zitterten wie weit entfernte Sterne, und hinter dem höchsten der Berge wuchs der milchweiße Hof des aufgehenden Mondes.
Der nahende Tod schien ihm
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