Tot ist nur, wer vergessen ist (German Edition)
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6. Juni 2007
Staatsgefängnis von Huntsville, Texas, Todestrakt
Sarah Durandt zuckte zusammen, als der verblichene blau karierte Vorhang sich ruckartig öffnete und den Blick auf den an einer Pritsche festgeschnallten Häftling freigab. Hinter sich hörte sie eine Frau nach Luft schnappen. Sarah beugte sich vor und legte eine Hand an die Scheibe, die sie und die anderen Zeugen von einer Bestie trennte. Sie atmete durch den Mund. Anders war die stickige Luft in dem engen Raum nicht zu ertragen.
Durch das dicke Glas wirkte jeder Gegenstand in dem weiß gekachelten Hinrichtungszimmer wie von einem Heiligenschein umgeben. Panzerglas. Was befürchteten sie, wer hier schießen würde? Der von den Beruhigungsmitteln inzwischen schon ganz benommene verurteilte Mann oder diejenigen, die hierhergekommen waren, um ihm beim Sterben zuzusehen?
Sarah schlang die Hände ineinander, legte sie in den Schoß und erschauerte, als der eisige Lufthauch aus der Klimaanlage sie traf. Mit ihr drängten sich elf weitere Menschen vor der Glasscheibe, alles Angehörige der anderen Opfer. Sie nahm jedoch kaum jemanden wahr. Die anderen waren hier, um einen Schlussstrich zu ziehen. Sarah hingegen wollte Antworten.
Aus schmalen Augen, denen kein Detail entging, musterte sie den Häftling auf der anderen Seite. Infusionsnadeln steckten in den zur Seite ausgestreckten Armen. Sieben Lederriemen fixierten seinen Körper, die Pose erinnerte auf fürchterliche Weise an eine Kreuzigung. Doch dieser Mann war kein Messias.
Er war der Teufel in Person.
Damian Wright war von durchschnittlicher Größe, einer, der nicht aus der Menge herausstach, mit einem nichtssagenden Gesicht ohne besondere Merkmale.
Sarah wusste es besser. Sie wusste von seiner Verschlagenheit, dass hinter der Fassade der Normalität das krankhafte Verlangen lauerte, andere Menschen zu foltern und zu verstümmeln. Selbst hier, auf seinem Sterbebett kannte er kein Erbarmen, verweigerte ihr auch den kleinsten Trost oder ein wenig inneren Frieden.
Sie wusste nicht, warum sich Damian unter allen Opfern bei seinen kranken Machtspielchen ausgerechnet auf sie konzentriert hatte. Sie war nur eine einfache Lehrerin aus einem Fünfhundert-Seelen-Dorf im Norden des Staates New York. Ihr braunes Haar band Sarah meist achtlos zu einem Pferdeschwanz zurück, nur bei besonderen Anlässen fiel es ihr offen über die Schultern – wie heute, bei der Hinrichtung eines Serienmörders.
Damians schweißbedeckte Haut glänzte im Schein der großen runden OP -Lampe. Sie war so grell, dass er die Augen fest zugedrückt hielt. Der Gefängnisdirektor nickte einem schwarz gekleideten Mann zu, der ein kleines Silberkreuz im Schoß hielt. Dann streckte er eine Hand aus, und als sie durch den Lichtkegel glitt, blitzte sein Ehering auf. Er zog das Mikrofon nach unten. Unwillkürlich strich Sarah über den Finger mit dem schlichten Ring daran, den Sam ihr vor sechs Jahren angesteckt hatte.
Das Mikrofon glitt wie eine Kobra nach unten, hielt knapp über Damians Mund inne und wippte dort hypnotisierend auf und ab. Mit einem kurzen Klick, der wie ein gedämpfter Schuss klang, schaltete der Gefängnisdirektor die Lautsprecheranlage ein. Damians kratziges Atemgeräusch erfüllte den Raum.
Unbewusst atmete Sarah in seinem Rhythmus mit, fast meinte sie, den Geruch von Desinfektionsmittel und Heftpflaster, von Schweiß und Angst durch die Scheibe hindurch wahrnehmen zu können. Alan Easton, der direkt neben ihr saß, drückte ihr aufmunternd die Hand.
»Alles in Ordnung?«, fragte er besorgt und klang dabei mehr wie ein Freund und nicht wie ihr Anwalt. Sarah war die einzige Angehörige, die für Sam und Josh hier war. Die ganze Familie, die Sam hinterlassen hatte. Josh – wie hätte sie für ihren Sohn nicht herkommen können?
Sie nickte abwesend, ihre ganze Aufmerksamkeit galt der Szene vor ihren Augen. Nur drei Menschen befanden sich in dem Hinrichtungsraum: der Gefängnisdirektor in seinem blauen Anzug mit gestärktem weißem Hemd und schmaler Krawatte, der schwarz gekleidete Pfarrer, und Damian Wright, der Mann, der ihr Leben zerstört hatte.
Wenn Sarah ihren Sechstklässlern zu Hause den Todestrakt beschreiben müsste, hätte sie ihnen erklärt, dass alles an dem abseits vom normalen Gefängnis gelegenen Gebäude darauf ausgerichtet war, eine Flucht unmöglich zu machen.
Nichts und niemand entkam diesem winzigen Bau mit den dicken, anstaltsgrün gestrichenen Wänden. Dem zweckmäßigen Hinrichtungsraum
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