Adrenalin - Robotham, M: Adrenalin - The Suspect
Blumenbeeten.
»Ist es verboten?«, flüstert Charlie.
»Ja«, sagt Julianne.
»Nicht direkt«, widerspreche ich und fange an, die Kartons auszuladen und Charlie zu reichen.
»Ich kann zwei nehmen«, erklärt sie.
»Okay, ich nehme drei, und dann kommen wir zurück und holen den Rest. Es sei denn, Mum – «
»Oh, ich bin hier ganz zufrieden.« Sie hat sich seit unserer Ankunft nicht von der Stelle gerührt.
Wir marschieren los und bleiben anfangs in der Nähe der Bäume. Zwischen den Gräbern erstrecken sich lange Rasenflächen. Ich gehe vorsichtig, um keine Blumen niederzutrampeln und mir an niedrigen Grabsteinen nicht die Schienbeine zu stoßen. Die Geräusche der Harrow Road verklingen und werden von Vogelgezwitscher und dem regelmäßigen Dröhnen der Schnellzüge ersetzt.
»Kennst du den Weg?«, fragt Charlie hinter mir leicht keuchend.
»Es ist da drüben, Richtung Kanal. Sollen wir eine Pause machen? «
»Schon gut.« Ihre Stimme klingt unvermittelt zweifelnd. »Dad?«
»Ja?«
»Diese Blätter kann sie nicht wirklich aufwirbeln, weil sie tot ist, oder?«
»Nein.«
»Ich meine, sie kann nicht wieder lebendig werden. Das machen Tote nicht, oder? Ich habe nämlich Zeichentrickfilme über Zombies und Mumien gesehen, die von den Toten zurückkehren, aber in Wirklichkeit passiert so was nicht, oder?«
»Nein.«
»Und Gracie ist jetzt im Himmel, oder? Dorthin ist sie doch gegangen.«
»Ja.«
»Und was machen wir dann mit all den Blättern hier?«
In solchen Augenblicken verweise ich Charlie normalerweise direkt an Julianne, die sie postwendend mit der Bemerkung zu mir zurückschickt: »Dein Vater ist Psychologe. Er kennt sich mit so was aus.«
Charlie wartet.
»Was wir machen, ist sozusagen symbolisch«, sage ich.
»Was bedeutet das?«
»Hast du die Leute schon mal sagen hören: ›Es ist der Gedanke, der zählt.‹?«
»Das sagst du immer, wenn mir jemand etwas schenkt, das mir nicht gefällt. Du sagst, ich soll dankbar sein, auch wenn das Geschenk blöd ist.«
»Das ist nicht genau das, was ich meine.« Ich probiere es mit einem neuen Ansatz. »In Wirklichkeit kann Tante Gracie diese Blätter natürlich nicht aufwirbeln. Aber egal wo sie ist, ich glaube, wenn sie uns jetzt zuguckt, dann lacht sie. Und es gefällt ihr bestimmt. Darauf kommt es an.«
»Und sie wirbelt im Himmel Blätter auf?«, will Charlie wissen.
»Auf jeden Fall.«
»Glaubst du, dass sie draußen ist, oder gibt es im Himmel auch irgendwas, wo man drinnen sein kann?«
»Ich weiß es nicht.«
Ich stelle meine Kartons ab und nehme Charlie ihre ab. Gracies Grabstein ist ein schlichter quadratischer Granitblock. Jemand hat eine schlammverschmierte Schaufel an die Messingplakette gelehnt und vergessen. Ich stelle mir Grabräuber vor, die eine Teepause machen, aber heutzutage arbeiten sie bestimmt mit Maschinen und nicht mehr mit Muskelkraft. Ich werfe die Schaufel zur Seite, und Charlie wischt die Plakette mit dem Ärmel ihrer Skijacke blank. Ich schleiche mich von hinten an und kippe einen Karton Laub über ihr aus.
»Hey, das ist nicht fair!« Charlie sammelt eine Hand voll Blätter ein und stopft sie mir in den Nacken meines Pullovers. Kurz darauf ist alles mit Blättern übersät. Gracies Grabstein ist komplett unter unserem Herbstopfer begraben.
Plötzlich räuspert sich hinter mir jemand laut, und Charlie stößt einen überraschten Schrei aus.
Vor dem Hintergrund des blassen Himmels zeichnet sich die Silhouette des Friedhofswärters ab, die Beine gespreizt und die Hände in die Hüften gestemmt. Er trägt eine grüne Jacke und schlammige Gummistiefel, die aussehen, als wären sie ihm zu groß.
»Könnten Sie mir vielleicht erklären, was Sie hier machen?«, fragt er mit monotoner Stimme und kommt einen Schritt näher. Er hat ein flaches rundes Gesicht, eine breite Stirn und eine Glatze und erinnert an Thomas, die kleine Lokomotive .
»Das ist eine lange Geschichte«, sage ich zaghaft.
»Sie entweihen ein Grab.«
Das klingt so albern, dass ich lachen muss. »Das glaube ich kaum.«
»Sie finden das komisch? Das ist Vandalismus. Es ist ein Verbrechen. Das ist Verschmutzung – «
»Trockenes Laub fällt nicht im engeren Sinne unter Verschmutzung. «
»Kommen Sie mir nicht mit Spitzfindigkeiten«, stottert er.
Charlie entscheidet sich, dazwischenzugehen. Mit atemloser Eloquenz erklärt sie: »Heute ist Gracies Geburtstag, aber wir können keine Party für sie geben, weil sie schon tot ist. Sie geht nicht
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