Adressat unbekannt
ein wahrer Führer ist und nicht ein Engel des Todes, dem sie so freudig folgen. Max, nur Dir allein kann ich eingestehen, daß ich zweifle. Ich hege Zweifel, aber ich hoffe.
Aber nun genug der Politik. Wir erfreuen uns an unserem Haus und haben schon einige Gesellschaften gegeben. Heute wird der Bürgermeister unser Gast sein, ein Abendessen für achtundzwanzig Personen. Wir geben wahrscheinlich ein bißchen an, vielleicht, aber das sei uns verziehen. Elsa hat ein neues Abendkleid aus blauem Samt und befindet sich in einem Zustand schierer Verzweiflung, weil sie fürchtet, daß es zu eng sein könnte. Sie ist wieder schwanger. Dies ist der beste Weg, um eine Frau friedlich zu stimmen. Halte sie mit Babys beschäftigt, so daß sie keine Zeit hat zu nörgeln.
Unser Heinrich hat eine gesellschaftliche Eroberung gemacht. Er reitet mit seinem Pony aus und läßt sich von ihm abwerfen. Wer geht hin, um den Jungen aufzuheben? Baron von Freische. Die beiden unterhalten sich lange über Amerika, ein paar Tage später ruft der Baron an, und wir treffen uns zu einem Kaffee. Nächste Woche ist Heinrich bei den von Freisches zum Mittagessen eingeladen. Was für ein Kerl! Es ist zu schade, daß sein Deutsch nicht besser ist, aber er ist für jeden eine Freude.
So geht unser Leben weiter, mein Freund. Vielleicht nehmen wir an großen Ereignissen teil, vielleicht bleiben wir aber auch innerhalb unseres kleinen Familienkreises. Was wir jedoch niemals aufgeben, das ist die Wahrhaftigkeit der Freundschaft, von der Du so bewegend sprichst. Unsere Herzen reisen über den Ozean zu Dir. Wenn die Gläser gefüllt sind, stoßen wir an: »Auf Onkel Max.«
Mit herzlichsten Grüßen
Dein Martin
GALERIE SCHULSE-EISENSTEIN
SAN FRANCISCO, KALIFORNIEN, U.S.A.
18. Mai 1933
Herrn Martin Schulse
Schloß Rantzenburg
München, Deutschland
Lieber Martin,
ich bin in Sorge über die Flut der Presseberichte über Dein Vaterland, die zu uns herüberschwappt. Da wir lauter widersprüchliche Geschichten erfahren, wende ich mich natürlich mit der Bitte um Aufklärung an Dich. Ich bin mir sicher, die Dinge können nicht so schlimm sein, wie sie dargestellt werden. Ein schreckliches Pogrom, so lautet die übereinstimmende Meinung der amerikanischen Zeitungen.
Ich weiß, daß Dein liberaler Geist und Dein mitfühlendes Herz keine Bösartigkeiten tolerieren würden und daß ich von Dir die Wahrheit erfahren werde. Aaron Silbermans Sohn ist gerade aus Berlin zurückgekehrt, und wie ich hörte, ist er nur mit knapper Not davongekommen. Die Geschichten, die er erzählt, klingen alles andere als schön. Er hat Mißhandlungen mit angesehen; jemandem wurde fast ein Liter Rizinusöl durch die zusammengepreßten Zähne eingeflößt, der dann in den folgenden Stunden unter den Qualen berstender Gedärme einen langsamen, fürchterlichen Tod starb. Vielleicht haben sich diese Ereignisse wirklich zugetragen und sind, wie Du gesagt hast, nur das brutale Oberflächengekräusel einer humanen Revolution, doch für uns Juden gehören sie zu einer vertrauten, traurigen Geschichte, die sich seit Jahrhunderten wiederholt, und es ist kaum zu glauben, daß das alte Martyrium heutzutage in einem zivilisierten Land erduldet werden muß. Schreibe mir, mein Freund, und gib mir meinen Seelenfrieden zurück.
Griselles Stück wird nach dem großen Erfolg wohl gegen Ende Juni vom Spielplan abgesetzt. Sie schreibt, ihr sei eine andere Rolle in Wien und auch eine sehr reizvolle in Berlin für den Herbst angeboten worden. Sie spricht hauptsächlich von diesem zweiten Angebot, aber ich habe ihr geschrieben, sie möchte doch warten, bis die antisemitische Welle abflaut.
Natürlich benutzt sie einen anderen, nichtjüdischen Künstlernamen (Eisenstein wäre für die Büh ne sowieso unmöglich), aber es ist nicht nur ihr Name, der ihre Herkunft verrät. Auch ihre Gesichtszüge, ihre Gesten, ihre gefühlsreiche Stimme weisen sie als Jüdin aus, gleichgültig, wie sie sich nennt. Und wenn diese Bewegung tatsächlich Kraft besitzt, tut Gri selle besser daran, im Augenblick nicht nach Deutschland zu gehen.
Mein Freund, verzeih diesen zerstreuten und kurzen Brief, aber ich finde keinen Frieden, bevor Du mich nicht beruhigt hast. Ich weiß, Du wirst mir in aller Aufrichtigkeit antworten. Ich bitte Dich inständig, mir so rasch wie möglich zu schreiben.
Mit den innigsten Beteuerungen meines Vertrauens in Dich und meiner Freundschaft zu Dir und den Deinen verbleibe ich wie immer
Dein
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