Äon - Roman
Russenmafia«, sagte Wolfgang mit Nachdruck. »Wir haben den Aufmacher und den ganzen Kram vorbereitet, Mann. Und jetzt kommst du hiermit.«
»Die Verbindungen sind geknüpft. In der nächsten Nummer. Ich bleibe am Ball.«
Wolfgang sah ihn groß an, stand ruckartig auf, trat zum nahen Fenster und schaute hinaus. Die Sonne schien, und der Blick reichte über die Außenalster hinweg bis zur Kennedy-Brücke
im Süden. Sebastian wusste: Wenn man nach rechts blickte, konnte man die Ali-Camii-Moschee an der Schönen Aussicht sehen, wo sich angeblich auch Hisbollah-Anhänger trafen. Einige Sekunden stand Wolfgang unbewegt da, drehte sich dann um. »Es reicht, Bastian. Es reicht wirklich.«
»Im Ernst, Wolfgang, es tut mir leid.« Sebastian begann zu ahnen, dass die Sache ernster war als bisher angenommen. »Ich habe meinem Riecher vertraut und bin dem Typen gefolgt …«
Wolfgang setzte sich wieder. »Wie lange kennen wir uns, Bastian?«
Sebastian wusste, dass ihn jetzt eine Predigt erwartete. »Dreißig Jahre?«
»Könnte stimmen. Wir sind gemeinsam zur Schule gegangen.«
Sebastian nickte. Sie kannten sich seit ihrer Kindheit, und selbst die Jahre in Italien hatten nichts daran geändert, dass sie sich so nahestanden wie Brüder. Es hatte immer einen besonderen Draht zwischen ihnen gegeben, eine spezielle Frequenz, auf der sie beide sendeten und empfingen.
»Ist dir eigentlich klar, dass du diesen Job nur noch hast, weil ich hier der Chefredakteur bin?«
»Wolfgang …«, begann Sebastian.
»Dir gehört gründlich der Kopf gewaschen, mein Lieber.«
»Ich habe gar keinen Job bei dir. Ich bin Freelancer.«
»Du weißt verdammt genau, was ich meine!«, donnerte Wolfgang so laut, dass man ihn vermutlich auch in den anderen Büros hörte. »Hör auf mit deinen verdammten Spielchen und sieh endlich der Realität ins Auge.«
Sebastian hob die Hände und massierte sich die Schläfen. Die Kopfschmerzen wurden stärker.
»Bastian …«, fuhr Wolfgang etwas ruhiger fort. »Hast du in letzter Zeit mal in den Spiegel geschaut? Du siehst aus wie durchgekaut und ausgespuckt, Mann!«
»Es war’ne lange Nacht.«
»Du säufst, Mann, das ist der verdammte Grund! Und ich weiß auch warum.«
Sebastian seufzte leise. Er verabscheute das, was jetzt kam.
»Anna«, sagte Wolfgang.
Sebastian verzog das Gesicht. »Fang nicht schon wieder damit an. Ich kann’s nicht mehr hören.«
»Es geht dir echt an die Nieren, nicht wahr?« Der Zorn in Wolfgangs Gesicht wich Sorge. »Aber trinken ist der falsche Weg, Bastian. Himmel, das sage ich dir als Freund!«
»Anna hat damit nichts zu tun«, erwiderte Sebastian fast trotzig. »Anna ist passé.«
»Sieben Jahre Ehe schüttelt man nicht einfach so ab.«
»Du musst es ja wissen«, brummte Sebastian. Wolfgang war ledig.
»Und dann das hier.« Kessler deutete auf den Monitor. »Deine Bilder werden immer schlimmer.«
»Vielleicht liegt es daran, dass die Welt immer schlimmer wird, Kumpel.«
»Ach, nö, jetzt komm mir nicht auf diese Tour, Bastian! Was soll das sein, Weltschmerz? Du leidest nicht an der Welt, sondern an dir selbst!«
Sebastian trank den Rest Kaffee. »Ich hab Kopfschmerzen«, sagte er. »Und dein Geschrei macht es nicht besser, Wolfgang.«
»Ich schreie nicht!«, donnerte Wolfgang.
»Nein, du flüsterst. Hab Mühe, dich zu hören, Kumpel.« Sebastian massierte sich erneut die Schläfen.
»Diese Bilder …« Wolfgangs Blick kehrte zum Monitor zurück. »Und kein Beitrag über die Russenmafia …« Er sah auf die Uhr und schnitt eine Grimasse. »Ich hasse es, in letzter Sekunde alles umzuschmeißen. Und das weißt du, verdammt.«
»Es ist eine heiße Sache«, sagte Sebastian schnell. »In letzter Zeit hat es mehrere Fälle dieser Art gegeben. Suizide mit starken selbstzerstörerischen Elementen. Vielleicht gibt es einen Zusammenhang.«
»Woher weißt du das?«
»Ich hab da so meine Quellen«, sagte Sebastian und hob die Brauen.
»Na schön«, brummte Wolfgang, nahm Sebastians Artikel, warf einen kurzen Blick darauf und legte ihn beiseite. »Na schön. Mal sehen, was sich damit anfangen lässt. Und jetzt …«
»Ich könnte weitere Nachforschungen anstellen, meine Quellen anzapfen …«
»Nein.« Wolfgang kramte auf dem Schreibtisch, fand ein Foto und hob es hoch. Es zeigte einen Jungen, acht oder neun Jahre alt, und im Hintergrund ein einfaches, südländisch anmutendes Dorf mit weiß getünchten Häusern. »Das ist Raffaele. Hast du vom › Wunder von
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