Äon - Roman
Leiden zu lindern, zu heilen und uns den rechten Weg zu zeigen.« Sie bekreuzigte sich bei diesen Worten.
»Wann hat es begonnen?«, fragte Sebastian und schaltete den kleinen Rekorder in seiner Hemdtasche ein. »Und wie?«
»Vor gut einem Jahr«, antwortete die Frau bereitwillig. Sie sprach mit gedämpfter Stimme und beugte sich zu Sebastian vor. »Ich hab’s selbst gesehen, mit meinen eigenen Augen«, betonte sie wie zuvor dem Amerikaner gegenüber. »Ich war bei meinem Bruder, der hier in Drisiano lebt, ich habe ihn mehrmals aufgefordert, zu mir nach Scilla zu kommen, aber er will einfach nicht weg von hier, hat hier seine Wurzeln, meint er immer …«
Auf diese Weise ging es ein oder zwei Minuten weiter, und dann sagte die Frau: »Die Kinder spielten weiter oben, und einer der Jungen stürzte beim Klettern von einem Felsen und brach sich das Bein, der arme Kerl. Raffaele befand sich in der Nähe, lief zu ihnen, berührte Matteo - so heißt der Junge -, und daraufhin stand er auf und konnte ohne fremde Hilfe gehen.«
Sebastian blieb skeptisch. »Vielleicht war das Bein in Wirklichkeit gar nicht gebrochen. Vielleicht …«
»Mein Bruder und ich, wir haben die Rufe der Kinder gehört und waren kurze Zeit später bei ihnen. Ich habe das Bein gesehen, Signor Tedesco , und ich garantiere Ihnen, dass es gebrochen war. Und Raffaele hat es geheilt. Das war der Anfang, und seitdem hat der Junge viele Kranke und Gebrechliche von ihren Leiden befreit. Er ist ein Geschenk Gottes für uns alle.« Die Frau bekreuzigte sich erneut.
Die leisen Gespräche in der Kirche verstummten, als sich hinter dem Altar eine Tür öffnete. Ein alter Priester trat hindurch, gekleidet in ein weißes Messgewand, das dem hageren Körper darunter zu viel Platz bot. Nur ein grauer Kranz war
von seinem Haar übrig, und er wirkte fast hohlwangig. Sebastian glaubte, ihn schon einmal gesehen zu haben, erinnerte sich aber nicht an seinen Namen. Dem Priester folgte der neun Jahre alte Raffaele, der über seiner normalen Kleidung ebenfalls ein weißes Gewand trug; ganz unten lugten Nike-Sportschuhe und Jeans hervor. Er bewegte sich normal, glatt, nicht so steif wie der Priester, doch ihn umgab eine Aura von … Fast wäre Sebastian bereit gewesen, es Erhabenheit zu nennen, aber dieser Ausdruck erschien ihm ein wenig übertrieben. Seine Augen waren groß, blickten nicht wie die eines Kinds, sondern fast wie die eines Erwachsenen. Das dunkle Haar war sorgfältig gekämmt, und er hatte die Hände vor der Brust gefaltet.
Der Priester begann mit einer Liturgie, die fast der eines normalen Gottesdienstes glich. Mehrmals standen alle Anwesenden auf und setzten sich wieder, und als Lieder angestimmt wurden, sang die ältere Dame neben Sebastian mit besonderem Eifer. Schließlich, nach mehreren Gebeten, nahm Raffaele auf dem Stuhl vor dem Altar Platz. Der Priester blieb neben ihm stehen.
»Und nun … Wer in Not gekommen ist, wen der Weg des Leids zu uns führt, wer draußen in der Welt alle Hoffnung aufgegeben hat … Bitte tretet vor und empfangt Gottes Segen.«
Es wurde völlig still in der kleinen Kirche. Auf der anderen Seite setzte sich jemand in Bewegung und schob einen Rollstuhl an den Sitzreihen vorbei zum Altar. Darin saß ein Mädchen, nur wenige Jahre älter als Raffaele, die Beine unnatürlich dünn. Der Mann, der den Rollstuhl schob, war wohl etwas über dreißig. Tochter und Vater, vermutete Sebastian.
Der Priester nickte dem Mann zu und wusste offenbar genau,
mit wem er es zu tun hatte. Er legte dem Mädchen kurz die Hand auf den Kopf.
»Vor zwei Jahren wurde Elisa bei einem Unfall schwer verletzt«, sagte der Geistliche. »Seitdem ist sie gelähmt.«
Raffaele stand auf, trat zum Rollstuhl und kniete daneben. Er griff nach den Händen des Mädchens und sprach einige leise Worte, die nur Elisa verstand. Was auch immer er ihr sagte: Es schien ihr zu gefallen, denn sie lächelte.
»Geh«, sagte der Junge dann laut. »Steh auf und geh.«
Er zog Elisa aus dem Rollstuhl, und sie stand auf ihren eigenen Beinen, machte einige erste vorsichtige Schritte, mit Raffaele an ihrer Seite. Sie betastete ihre Beine, schien es kaum glauben zu können und drehte sich strahlend zu ihrem Vater um. »Papa … Ich kann wieder gehen!« Sie lief auf ihn zu und ließ sich von ihm umarmen.
Applaus erklang in der Kirche und verebbte nach und nach wieder, als der Priester die Hand hob und betont würdevoll um Ruhe bat.
»Danken wir Gott für das Wunder, das er
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