Äon - Roman
Schreibtisch Platz und deutete auf den Stuhl davor.
»Er ist Ihnen sehr wichtig«, sagte Sebastian und deutete auf die Bilder.
Don Vincenzo lächelte wie ein glücklicher Vater. »Er ist für uns alle wichtig. Er zeigt uns den Weg zu Gott.«
Bei diesen Worten änderte sich etwas im faltigen Gesicht des Priesters. Der Journalist in Sebastian war ein aufmerksamer Beobachter und sah, wie hinter Stolz und Freude Sorge, Furcht und auch ein seltsamer Schmerz zum Vorschein kamen. Er versuchte, sich an die Dinge zu erinnern, die ihm Anna über Don Vincenzo erzählt hatte. Er wusste nur noch, dass dieser fast siebzig Jahre alte katholische Priester weit in der Welt herumgekommen war. Er hatte in den Armenvierteln der großen Städte Lateinamerikas gearbeitet und war in Südafrika in mehreren Krankenhäusern als Seelsorger für Aids-Kranke tätig gewesen.
Dass jemand wie er ausgerechnet im kalabrischen Drisiano endete, noch dazu als einfacher Geistlicher, wunderte Sebastian ein wenig. Er verließ sich auf seine Intuition, die ihm schon so oft geholfen hatte, und wagte einen Schuss ins Blaue.
»Er hat Ihnen den Weg zu Gott gezeigt, nicht wahr?«, fragte Sebastian.
Überraschung huschte über die Miene des Priesters, und sein Blick wanderte zu dem Foto auf dem Schreibtisch. »Es gibt so viel Leid auf der Welt«, sagte er leise und wie zu sich selbst. »So viel Schmerz … Wussten Sie, dass selbst Mutter Teresa gelegentlich an Gott gezweifelt hat, Signor Vogler?«
Sebastian hätte gern darauf hingewiesen, dass er noch andere Leute kannte, die an Ihm zweifelten, aber am vergangenen Abend im Hotel, als er noch einigermaßen nüchtern gewesen war, hatte er sich vorgenommen, bei dieser Sache so professionell wie möglich vorzugehen, aller persönlichen Abneigung zum Trotz. Er konnte mit Religion nichts anfangen, und er fand es zum Kotzen, dass sein alter Kumpel glaubte, den Kuppl er spielen zu müssen, aber er wollte ordentliche journalistische Arbeit leisten. Das war der beste Weg, Wolfgang zu zeigen, dass er sein Leben noch immer im Griff hatte.
»Aber jetzt zweifeln Sie nicht mehr«, sagte Sebastian, als Don Vincenzo einige Sekunden schwieg. Der alte Mann schien in Gedanken versunken zu sein.
Ein Licht erschien in den wässrigen Augen des Priesters, begleitet von einem seligen Lächeln auf den Lippen. »Sie haben ihn gesehen, Signor Vogler. Wie kann man an Gott zweifeln, wenn man Raffaele gesehen hat?«
Sebastian nickte langsam. Die Begegnung mit dem Jungen war wirklich … sonderbar gewesen. Dass von Raffaele eine besondere
Ausstrahlung ausging, ließ sich nicht leugnen, und er hatte tatsächlich die Menschen geheilt, die zu ihm gekommen waren. Wolfgang hatte recht gehabt: Hier war keine Scharlatanerie im Spiel. Aber wenn er tatsächlich Wunder vollbrachte … Bewies er damit Gottes Existenz? Don Vincenzo schien davon überzeugt zu sein, und mit ihm der Vatikan. Raffaele, so vermutete Sebastian, sollte in der ideellen Auseinandersetzung mit den anderen Religionen, insbesondere mit dem Islam, nicht nur zu einem As im Ärmel der katholischen Kirche werden, sondern zu einem Trumpf auf dem Tisch, zu einem Joker, der alle anderen Karten überbot. Seht her, lautete die Botschaft. Ihr könnt noch so viele Gebetstrommeln drehen und noch so oft die Stirn an den Boden pressen oder was auch immer - wir haben den Jungen! Einen einfachen kalabrischen Jungen, der zu Gottes Instrument geworden ist, durch das Seine Kraft uns Menschen erreicht. Sebastian stellte sich vor, wie es auf ein triumphierendes Wir haben recht, und ihr habt unrecht! hinauslief, mit Raffaele als lebendem, unwiderlegbarem Beweis. Vielleicht, so überlegte er, hoffte der Oberhirte in Rom, der Vatikan könne auf diese Weise aus dem Wettstreit der Weltreligionen um den Besitz der allein selig machenden Wahrheit als Sieger hervorgehen. Der Papst, von Gottes Gnaden dazu ausersehen, mit Raffaeles Hilfe die Kirche zu neuem Ruhm und Glanz zu führen.
Kein Wunder, dass Don Vincenzo, der Gott gesucht hatte, so voller Freude und Stolz war. Raffaele war nicht sein Sohn, wohl aber sein Junge. O ja, er hatte Gott gefunden, keinen abstrakten, weit entfernten Gott, sondern Seine Heilige Inkarnation, neun Jahre alt.
Raffaele tat Sebastian plötzlich leid. Was auch immer der Junge sein mochte, man würde ihn benutzen.
Und doch … In seinen Augen, ganz tief in ihnen, hatte er etwas gesehen, das ebenso wenig in dieses Bild passte wie der Schmerz, den er kurz im Gesicht des
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