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Äon - Roman

Titel: Äon - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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Raffaele. Wir müssen ohne ihn zurechtkommen. Wir müssen stark sein, so stark wie er.«
    Raffaele beugt sich vor, und seine Fingerspitzen streichen über das Grab von Nikolaus. Plötzlich zittert er und presst sich die Hände an den Kopf.
    »Sie sind hier drin!«, ruft er. »Sie sind in meinem Kopf und sagen mir, was ich tun soll.«
    Sebastian zieht den Jungen an sich und fühlt sein Zittern. »Ich weiß. Aber du bist stärker als sie, wenn du es willst.« Er hofft, dass es stimmt. Er hofft es von ganzem Herzen, denn es ist die einzige Chance, die sie haben. Hier an diesem besonderen Ort unterliegt Raffaele nicht dem Einfluss der Nephilim, der ihn von Geburt an begleitet hat; hier ist er zum ersten Mal frei.
    »Können wir nicht hierbleiben? Es ist wie zu Hause«, sagt Raffaele und deutet zum Dorf.
    »Nein. Wir müssen zurück. Dies ist kein richtiger Ort, eher ein … Traum. Und aus Träumen erwacht man früher oder später. Aber du kannst hier Kraft schöpfen, Raffaele. Wir müssen stark sein«, betont Sebastian noch einmal.
    Eine Zeit lang schauen sie beide über den Hang in die Nacht und beobachten die Sterne.
    »Sie haben auch für Nikolaus gefunkelt«, sagt Sebastian. »Die gleichen Sterne. Der Große Wagen, Orion, all die anderen. Auch er hat sie gesehen.«
    »Achthundert Jahre«, flüstert der Junge an seiner Seite. »Und hier bin ich, an seinem Grab.«
    Sebastian wartet. Dieser Moment - eingebettet in einen anderen, vor dem Tor mit der Membran - gibt den Ausschlag. Der Junge muss sich
entscheiden; aber für diese Entscheidung braucht er die Kraft des eigenen Willens.
    »Was soll ich tun?«, fragt Raffaele.
    »Weigere dich«, sagt Sebastian. »Lass dich nicht länger von den Nephilim benutzen. Weigere dich, die Membran zu zerreißen. Lass das Herz der Welt schlagen, ohne die Barriere zu öffnen.«
    »Aber sie zwingen mich! Ihre Stimmen in meinem Kopf werden lauter und lauter, bis ich keine eigene mehr habe, und dann muss ich tun, was sie verlangen.«
    »Diesmal nicht«, sagt Sebastian. »Wir kennen diesen Ort, Raffaele. Wir kennen die ganze Geschichte. Wir wissen Bescheid . Und wir sind beide fest entschlossen, uns nicht länger benutzen zu lassen. Gemeinsam können wir stark genug sein.« Er spricht die Worte mit Nachdruck, mit der Festigkeit tiefer Überzeugung. Nicht für eine einzige Sekunde gestattet er sich, an die Alternative zu denken, an den scharfkantigen Stein. Nicht der Tod soll die Nephilim besiegen, sondern das Leben.
    Einige lange Minuten vergehen, und dann nickt Raffaele. »Ich versuche, stark zu sein«, sagt er leise. »So stark wie Nikolaus.« Ein letztes Mal berührt er das Grab. »Lass uns zurückkehren.«
     
    Entschlossenheit glänzte in Raffaeles Augen, als er sich von der Membran abwandte. Das Brausen und Donnern dauerte an, und noch immer wehte Wind aus dem Riss in der gewölbten Membran. Aber so sehr sich die Geschöpfe auf der anderen Seite auch dagegenpressten, sie konnten die Barriere nicht durchdringen - Raffaele musste die Membran für sie zerreißen.
    Sebastian wollte die Hand des Jungen ergreifen, doch etwas schmetterte ihn zu Boden. Yvonne stand vor ihm, mit wehendem blonden Haar und dem Feuer des Zorns in den Augen.

    »Lauf!«, brachte Sebastian hervor. »Lauf, Raffaele!«
    Der Junge lief los, kam aber nicht weit. Yvonne drehte sich halb um und sagte sanft: »Wohin läufst du, Raffaele? Komm. Komm zu mir.«
    Raffaele blieb stehen, drehte sich langsam um und kehrte mit ruckartigen, marionettenhaften Bewegungen zurück. Yvonnes Lippen formten ein dünnes Lächeln.
    »Wohin soll er laufen?«, fragte sie und sprach noch immer ganz ruhig. »Er kann uns nicht verlassen. Wir sind hier drin.« Bei den letzten Worten legte sie dem Jungen die Hand auf den Kopf.
    Erneut erschien das stumme Flehen in Raffaeles Augen, aber es verschwand sofort wieder, wie eine vom Wind ausgepustete Kerzenflamme. Sebastian glaubte, ein leises Hilf mir, du hast es versprochen zu hören, aber er konnte dem Jungen nicht helfen. Er lag noch immer am Boden, zwischen den von der Decke herabgestürzten Gesteinsbrocken, von unsichtbaren Fesseln festgehalten. Er konnte nicht eingreifen, als Yvonne Raffaele zur Membran führte.
    Die Geschöpfe auf der anderen Seite drängten erneut nach vorn.
    Sebastian versuchte, wieder auf die Beine zu kommen. Der Nephilim in ihm kreischte und heulte wie eine Furie, als er sich wie in Zeitlupe zur Seite rollte, die Arme streckte und sich hochstemmte. Er schien in zäher Melasse

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