After Moonrise (German Edition)
sonderlich, dass der Gentleman der alten Schule ihm praktisch im Blut lag, aber manche Angewohnheiten waren einfach nicht der Mühe wert, sie zu brechen.
„Was kann ich für Sie tun, Mrs Wilcox?“
„Wissen Sie das nicht bereits?“
Er versuchte sich seine Verärgerung nicht anmerken zu lassen. „Mrs Wilcox, ich bin mir sicher, mein Sekretär hat Ihnen erklärt, dass ich Sie nicht lesen werde. So funktioniert meine Gabe nicht. Also entspannen Sie sich. Es gibt keinen Grund für Sie, in meiner Anwesenheit nervös zu sein.“
„Wenn Sie meine Gedanken nicht lesen können, woher wissen Sie dann, dass ich mich entspannen muss und nervös bin?“
„Sie sitzen kerzengerade da und haben Ihre Hände so fest ineinander verschlungen, dass Ihre Finger weiß werden. Man muss kein Hellseher sein, um zu erkennen, wie angespannt Sie sind. Jeder mit ein bisschen Grips und einigermaßen Beobachtungsgabe kann das sehen. Abgesehen davon hat meine Gabe eher mit der dunklen Seite des Paranormalen zu tun. Zu mir kommen die Leute nicht wegen vermisster Welpen oder um mit dem Geist von Elvis Kontakt aufzunehmen. Sie kommen, weil ihnen oder jemandem in ihrem Umfeld etwas Schlimmes zugestoßen ist. Und schreckliche Ereignisse machen einen Menschen nun einmal“, er nickte ihr kurz zu, „angespannt und nervös.“
Sie sah auf ihre gefalteten Hände hinab und gab sich sichtlich Mühe, sie zu entspannen. Dann schaute sie wieder zu ihm hoch. „Tut mir leid. Es ist nur so, dass ich mich so unwohl bei der Sache fühle.“
„Der Sache?“ Nein, verflucht noch mal. Er würde es ihr nicht leichter machen. Nicht heute Morgen. Nicht, solange es sich so anfühlte, als würde etwas unter seine Haut kriechen wollen. Er hatte es einfach satt, sich mit Leuten abgeben zu müssen, die zwar die übersinnlich begabten Angestellten von After Moonrise anheuerten, dann aber so taten, als würden sie lieber mit jemandem arbeiten, der ihre verstopfte Klärgrube reinigte – von Hand.
„Der Tod. “ Sie sagte es so leise, dass Raef sie kaum hörte.
Er blinzelte überrascht. Dann war es nicht die Berührungsangst mit dem Übersinnlichen, die sie so eiskalt wirken ließ – es ging um den Tod. Das konnte er allerdings verstehen. Der Tod, genauer gesagt Mord, war sein Job. Aber das bedeutete nicht, dass es ihm gefiel.
„Der Tod ist selten ein angenehmes Thema. “ Er hielt inne, als ihm klar wurde, dass er auf sie wie ein Ekel gewirkt haben könnte, und bedachte sie mit einem verständnisvollen Blick. „Also, Mrs Wilcox, wie wäre es, wenn wir von vorne anfangen? Sie versuchen Ihr Bestes, sich zu entspannen, und ich tue mein Bestes, um Ihnen zu helfen.“
Ihr Lächeln wirkte etwas gequält, aber wenigstens war es ein Lächeln. „Das klingt vernünftig, Mr Raef.“
„Sie sind also wegen eines Toten hier.“
„Ja. Ich bin hier, weil ich nicht weiß, an wen ich mich noch wenden soll.“
Das jedenfalls hatte er schon oft gehört, aber er fühlte sich dadurch nicht voller Herzenswärme und wie ein Retter, wie es bei einigen anderen Angestellten von After Moonrise der Fall gewesen wäre, Claire oder Ami oder sogar Stephen. Das war nur verständlich. Ihnen gelang es manchmal, Menschen zu retten. Er selbst hatte nur mit den Folgen von Gewalt und Mord zu tun. Da war keine Rettung mehr möglich.
„Kommen wir also zur Sache, Mrs Wilcox. “ Er wusste, dass er grob klang, sogar einschüchternd. Das lag durchaus in seiner Absicht. So ging es meistens viel schneller.
„Meine Tochter Lauren braucht Ihre Hilfe. Ihretwegen bin ich hier.“
„Ist Lauren ermordet worden?“ Raef nahm den groben Tonfall aus seiner Stimme. Jetzt klang er einfach nur distanziert und objektiv, wie ein Labortechniker, der nach einer Krebsdiagnose die weitere Vorgehensweise besprach. Er nahm einen Stift, schrieb Lauren auf einen frischen Notizblock, unterstrich den Namen und sah dann wieder hoch zu Mrs Wilcox. Leicht ungeduldig wartete er auf den Rest der Geschichte.
Sie presste die Lippen zu einer dünnen Linie zusammen, als wollte sie die Worte zurückhalten, die auszusprechen ihr so viele Schmerzen bereiteten. Dann atmete sie tief durch. „Nein, Lauren ist nicht ermordet worden. Sie lebt, aber sie ist nicht mehr vollständig. Sie ist nur noch teilweise bei uns. Ich brauche Ihre Hilfe, um ihren Geist wiederherzustellen.“
„Mrs Wilcox, ich glaube, da hat es einen Irrtum bei der Terminvergabe gegeben. Es klingt, als sollten Sie sich mit einem anderen Mitglied des
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