Afterdark
Decke reihen sich zahlreiche Neonröhren. Möbel sind keine zu sehen. Doch, bei genauerem Hinsehen lässt sich ungefähr in der Mitte ein einzelner Stuhl erkennen. Ein alter Holzstuhl mit Rückenlehne, aber ohne Armstützen. Funktional und schlicht. Jemand sitzt darauf. Da das Bild noch nicht völlig zur Ruhe gekommen ist, können wir die Person nur als verschwommene Silhouette wahrnehmen. Es herrscht die erkaltete Atmosphäre eines längst verlassenen Ortes.
Wachsam nähert sich die Fernsehkamera, die uns anscheinend dieses Bild überträgt, dem Stuhl. Vom Körperbau her könnte die Gestalt ein Mann sein. Er sitzt leicht nach vorne gebeugt und wendet uns das Gesicht zu. Offenbar ist er tief in Gedanken versunken. Der Mann trägt dunkle Kleidung und Lederschuhe. Sein Gesicht können wir nicht sehen, aber er scheint ein nicht besonders großer, eher dünner Mann zu sein. Sein Alter lässt sich nicht bestimmen. Während wir diese bruchstückhaften Informationen sammeln, wird das Bild immer wieder plötzlich gestört. Das Geräusch schwillt an, wird lauter. Doch die Störungen dauern nie lange an, stets kehrt das Bild gleich wieder zurück. Der Lärm ebbt ab. Trotz wiederholter Schwankungen besteht kein Zweifel, dass sich das Bild zunehmend stabilisiert.
In diesem Zimmer geht ganz offenkundig etwas vor. Vielleicht etwas von schwerwiegender Bedeutung.
3
00:25 Uhr
Wir sind wieder bei »Denny's«. Im Hintergrund läuft More von Martin Denny. In der vergangenen halben Stunde hat die Zahl der Gäste merklich abgenommen und das Stimmengewirr ist verstummt. Daran zeigt sich, dass die Nacht eine Stufe vorangeschritten ist.
Nach wie vor sitzt Mari an ihrem Tisch und liest in ihrem dicken Buch. Vor ihr steht jetzt ein Teller mit einem Gemüse- Sandwich, das sie kaum angerührt hat. Wahrscheinlich hat sie es weniger aus Hunger als zum Zeitvertreib bestellt. Ab und zu ändert sie plötzlich ihre Lesehaltung. Sie stützt die Ellbogen auf den Tisch oder lehnt sich weit im Stuhl zurück. Hebt das Gesicht, holt tief Luft und prüft, wie voll das Lokal noch ist. Ansonsten konzentriert sie sich ganz auf ihre Lektüre. Wie es scheint, ist Konzentration eine ihrer herausragenden persönlichen Eigenschaften.
Inzwischen gibt es noch andere einzelne Gäste. Einige schreiben auf einem Notebook. Oder sie simsen auf ihren Handys. Oder sind wie Mari in eine Lektüre vertieft. Oder sie blicken müßig aus dem Fenster und hängen ihren Gedanken nach. Vielleicht können sie nicht schlafen. Oder sie wollen nicht. Ein Lokal wie dieses bietet ihnen einen nächtlichen Aufenthaltsort.
Nun betritt eine große Frau, der das automatische Öffnen der Glastür sichtlich nicht schnell genug geht, das Restaurant. Sie hat eine gute Figur - nicht füllig, jedoch breitschultrig und muskulös. Ihre schwarze Wollmütze hat sie tief ins Gesicht gezogen. Weite Lederjacke, orangefarbene Hose. Sie trägt nichts bei sich. Ihre unerschrockene Erscheinung erregt Aufmerksamkeit. Als die Empfangsdame ihre übliche Frage »Einen Tisch für eine Person?« stellt, ignoriert die Frau sie und schaut sich mit scharfem Blick im Lokal um. Als sie Mari, entdeckt, mustert sie sie kurz und geht dann mit großen Schritten direkt auf sie zu.
Wortlos setzt sie sich auf den Platz gegenüber. Für ihre Größe sind ihre Bewegungen schnell und geschmeidig.
»Darf ich?«, sagt sie.
Mari, die auf ihr Buch konzentriert ist, hebt den Kopf. Überrascht nimmt sie die große Fremde ihr gegenüber zur Kenntnis.
Die Frau nimmt die Wollmütze ab. Ihr Haar ist grellblond und kurz geschnitten wie ein gepflegter Rasen. Ihre Gesichtszüge sind offen und umgänglich, wirken aber gegerbt wie ein Regenmantel, der lange Wind und Wetter ausgesetzt war. Ihre rechte und linke Gesichtshälfte sind nicht symmetrisch. Doch bei genauerem Hinsehen hat sie etwas Beruhigendes an sich, eine natürliche Gutmütigkeit. Zur Begrüßung lächelt sie breit und fährt sich mit ihrer großen Hand durch das kurze blonde Haar. Die Bedienung kommt vorschriftsmäßig mit Wasser und Speisekarte an den Tisch, aber die Frau winkt ab. »Nein danke, ich gehe gleich wieder, tut mir leid.« Die Kellnerin entfernt sich mit gezwungenem Lächeln.
»Du bist Eri Asai, oder?«, sagt die Frau. »Ja, aber ...«
»Ich hab von Takahashi gehört, dass du vielleicht noch hier bist.«
»Takahashi?«
»Tetsuya Takahashi. Ein großer, schlaksiger Typ mit langen Haaren. Er spielt Posaune.«
Mari nickt. »Ach der.«
»Er hat mir gesagt,
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