Afterdark
dass du fließend Chinesisch sprichst.«
»Na ja, alltägliche Dinge kann ich einigermaßen ausdrücken«, antwortet Mari wachsam. »Fließend kann man das aber nicht nennen.«
»Würde es dir etwas ausmachen, mich zu begleiten? Bei uns ist eine junge Chinesin in Schwierigkeiten geraten, aber sie kann kein Japanisch. Ich habe einfach keine Ahnung, was ich machen soll.«
Obwohl Mari nicht genau weiß, worum es geht, legt sie ein Lesezeichen in ihr Buch, klappt es zu und schiebt es beiseite. »Schwierigkeiten?«
»Sie ist verletzt. Es ist ganz nah, gleich um die Ecke. Wir können zu Fuß gehen. Es dauert bestimmt nicht lange. Es reicht schon, wenn du mir in groben Zügen übersetzen könntest, was passiert ist. Ich wäre dir wirklich sehr dankbar.«
Zögernd sieht Mari der Fremden ins Gesicht und gelangt zu der Einschätzung, dass sie kein übler Mensch sein kann. Sie packt das Buch in ihre Schultertasche und zieht ihre Stadionjacke an. Sie will die Rechnung vom Tisch nehmen, aber die Frau hat sie sich schon gegriffen.
»Ich zahle.«
»Nein, das sind Sachen, die ich bestellt habe.«
»Schon gut, sei still und lass mich.«
Als sie aufstehen, wird klar, dass die Frau viel größer ist als Mari. Im Vergleich zu Mari, die ein zierliches Mädchen ist, hat sie die Statur einer Scheune. Sie ist etwa einen Meter fünfundsiebzig groß. Mari lenkt ein und lässt sie bezahlen.
Die beiden verlassen »Denny's«. Auch um diese Zeit sind die Straßen noch belebt. Elektronischer Lärm aus Spielhallen, Anreißer von Karaoke-Bars. Knatternde Motorräder. Drei junge Männer sitzen untätig vor heruntergelassenen Rollläden. Als Mari und die Frau an ihnen vorübergehen, heben sie die Köpfe und starren sie neugierig an. Wahrscheinlich finden sie, dass die beiden ein seltsames Paar sind, aber sie gaffen nur, ohne einen Kommentar abzugeben. Der Rollladen ist von oben his unten mit Graffiti besprüht.
»Ich heiße Kaoru. Nicht gerade berückend, aber eben der Name, den sie mir nach meiner Geburt verpasst haben.«
»Angenehm«, sagt Mari.
»Entschuldige, dass ich dich einfach so mitschleppe. Bestimmt habe ich dich überrumpelt.«
Mari weiß nicht, was sie darauf sagen soll, und schweigt. »Soll ich deine Tasche tragen? Sie sieht ziemlich schwer aus., sagt Kaoru.
»Geht schon.«
»Was ist denn da drin?«
»Ein Buch, Kleider zum Wechseln und so ...«
»Bist du etwa von zu Hause weggelaufen?«
»So kann man es eigentlich nicht nennen«, sagt Mari. »Dann ist ja gut.«
Die beiden verlassen nun den belebten Teil des Viertels, biegen in eine schmale Straße ein und gehen bergauf. Kaoru läuft rasch voran, und Mari folgt ihr. Sie gehen eine verlassene dunkle Treppe hinauf, die auf eine andere Straße führt. Die Treppe scheint eine Abkürzung zu sein, die beide Straßen verbindet. Die wenigen Snackbars, deren Schriftzüge noch beleuchtet sind, wirken menschenleer.
»Das Love-Ho da drüben.«
»Love-Ho?«
»Love Hotel. Ein Hotel für Paare - eine Absteige, kurz gesagt. Siehst du das Neonschild >Alphaville Da ist es.«
Bei diesem Namen sieht Mari Kaoru unwillkürlich an. »Alphaville?«
»Keine Sorge, es ist nicht gefährlich. Ich bin die Geschäftsführerin des Hotels.«
»Und dort ist die verletzte Frau?«
Kaoru dreht sich im Gehen zu ihr um. »Ja, eine blöde, lästige Geschichte.«
»Ist Takahashi auch dort?«
»Nee, der übt bis morgen früh im Keller von irgendeinem Hochhaus hier in der Nähe mit seiner Band. Studenten haben's gut, die führen ein sorgloses Dasein.«
Die beiden gehen durch die Tür des Hotels »Alphaville«. Es funktioniert so, dass die Gäste sich im Flur Fotos von den Zimmern anschauen, sich eines aussuchen, das ihnen gefällt, per Knopfdruck die Nummer eingeben und automatisch den Schlüssel erhalten. Dann steigen sie in den Aufzug und fahren zu ihrem Zimmer. Sie müssen niemandem begegnen und mit niemandem sprechen. Man kann stundenweise oder für eine Nacht bezahlen. Es herrscht eine dämmrigbläuliche Beleuchtung. Neugierig sieht Mari sich überall um. Kaoru spricht kurz mit einer Frau an der Rezeption.
»Du warst wahrscheinlich noch nie in so einem Hotel, oder?«, fragt sie Mari.
»Nein, das ist das erste Mal.«
»Tja, auf der Welt gibt's verschiedene Arten, sein Geld zu verdienen.«
Kaoru und Mari fahren im Gästeaufzug nach oben. Sie gehen einen schmalen, kurzen Gang entlang und machen vor einer Tür mit der Nummer 404 Halt. Als Kaoru zweimal leise klopft, wird die Tür sofort von
Weitere Kostenlose Bücher