Afterdark
lang. Es ist eine relativ einfache Geschichte.« Noch ein Schluck Wasser, und er erzählt weiter.
»Wie Gott gesagt hatte, fanden die drei Brüder am Strand drei große Steine. Und wie er sie geheißen hatte, rollten sie die Steine weg. Es waren sehr große, schwere Felsbrocken, und es war nicht einfach, sie zu bewegen. Besonders mühsam war es, sie den Hang hinaufzuwälzen. Der jüngste Bruder meldete sich als Erster. >Brüder<, rief er, >ich bleibe hier. Der Strand ist nah, und ich kann Fischen gehen. Das reicht mir zum Leben. Ich muss nicht so weit in die Welt blicken können<, erklärte er. Seine beiden älteren Brüder kämpften sich jedoch weiter voran. Als sie etwa zur Hälfte den Berg hinauf waren, rief der zweite Bruder: >Großer Bruder, ich bleibe hier. Hier gibt es Früchte im Oberfluss, genug zum Leben. Ich muss nicht so weit über die Welt hinwegschauen.< Aber der älteste Bruder arbeitete sich immer weiter den Hang hinauf. Der Pfad wurde allmählich schmal und steil, aber er gab nicht auf. Er war ein ausdauernder Charakter, und außerdem sehnte er sich danach, in die Ferne zu blicken, wenn auch nur ein Stück. Er rollte den Felsbrocken bergauf, soweit seine Kräfte reichten. Er brauchte mehrere Monate, aber er schaffte es, fast ohne Essen und Trinken, seinen Stein auf den Gipfel des hohen Berges zu wuchten. Er hielt inne und betrachtete die Welt. Jetzt konnte er weiter sehen als alle anderen. Dort ließ er sich nieder. An diesem Ort wuchs kein Gras, und nicht einmal die Vögel flogen so hoch hinauf. Flüssigkeit bekam er nur, indem er Reif und Eis leckte, und ernähren musste er sich von Moosen, die er vom Boden kratzte. Dennoch tat es ihm nicht leid. Weil er die Welt überblicken konnte ... Und deshalb liegt auf dem Gipfel des Berges auf jener Insel noch heute ein einzelner großer, runder Felsen.«
Schweigen.
»Hat diese Geschichte eine Moral?«, fragt Mari.
»Möglicherweise sogar zwei.« Er hebt einen Finger. »Erstens: Die Menschen sind verschieden, sogar wenn sie Geschwister sind.« Er liebt einen zweiten Finger. »Und zweitens: Wenn man etwas wirklich will, muss man auch den Preis dafür bezahlen.«
»Ich finde das Leben, das die beiden jüngeren Brüder gewählt haben, irgendwie ehrlicher«, stellt Mari fest.
»Ja, kann sein«, räumt er ein. »Wer will schon nach Hawaii kommen und sein Leben fristen, indem er Reif leckt und Moos knabbert? Keine Frage. Aber der älteste Bruder hatte diese Neugier in sich und wollte die Welt so weit wie möglich überblicken, auch wenn es nicht weit war. Er konnte das nicht unterdrücken und bezahlte einen hohen Preis dafür.«
»Für die intellektuelle Neugier.«
»Genau.«
Mari denkt nach. Eine Hand hat sie auf ihr dickes Buch gelegt. »Auch wenn ich dich höflich frage, was für ein Buch du da liest, sagst du's mir sicher nicht«, sagt er. »Wahrscheinlich nicht.«
»Sieht ziemlich schwer aus.«
Mari schweigt.
»Zumindest hat es nicht die Größe von einem, das ein Mädchen in einer normalen Handtasche mit sich rumschleppt.«
Mari hält ihr Schweigen aufrecht. Er gibt auf und wendet sich wieder seiner Mahlzeit zu. Diesmal konzentriert er sich wortlos auf seinen Hühnchensalat, bis er ihn aufgegessen hat. Er kaut lange und gründlich und trinkt eine Menge Wasser dazu. Mehrmals bittet er die Kellnerin nachzugießen. Er isst den letzten Bissen von seinem Toast.
»Ihr wohnt doch in Hiyoshi, oder?«, sagt er. Die Bedienung hat seinen leeren Teller schon abgeräumt.
Mari nickt.
»Die letzte Bahn schaffst du nicht mehr. Du musst ein Taxi nehmen, vor morgen früh fährt keine mehr.«
»Weiß ich«, sagt Mari.
»Dann ist's ja gut.«
»Ich weiß nicht, wo du wohnst, aber die letzte Bahn in deine Richtung ist sicher auch weg, oder?«
»In Koenji. Aber ich wohne allein. Außerdem proben wir sowieso bis morgen früh. Im Notfall hat ein Freund von mir ein Auto dabei.«
Er tätschelt den Instrumentenkoffer neben sich wie den Kopf eines geliebten Hundes.
»Wir üben im Keller von einem Gebäude ganz hier in der Nähe«, sagt er. »Da können wir so viel Lärm machen wie wir wollen, und niemand beschwert sich. Weil die Heizung nicht funktioniert, ist es um diese Jahreszeit ganz schön kühl, aber immerhin dürfen wir ihn umsonst benutzen, mithin kann man keinen Luxus verlangen.«
Mari betrachtet den Koffer. »Ist da eine Posaune drin?«
»Genau. Du kennst dich ja aus«, sagt er ein wenig überrascht.
»Ich weiß ungefähr, was für eine Form eine
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