Agnes: Roman (German Edition)
der Natur unterzugehen, zu verschwinden. Sie wollten etwas hinterlassen, um zu zeigen, daß jemand dagewesen ist, daß dort Menschen gelebt haben.«
»Ziemlich aufwendig, nur für ein Zeichen.«
»Die Pyramiden auch, vielleicht auch der Sears Tower … Warst du schon einmal in den Wäldern hier?«
»Nein. Ich habe die Stadt noch nie verlassen.«
»Sie sind ohne Ende. Alle Bäume sind gleich hoch. Man verirrt sich, wenn man den Weg verläßt. Man könnte verschwinden und würde nie mehr gefunden.«
»Irgendwann kommt überall jemand vorbei«, sagte ich.
»Ich war als Mädchen bei den Pfadfindern«, erzählte Agnes. »Mein Vater wollte es unbedingt, obwohl ich es haßte. Mit all den anderen Mädchen zusammen. Einmal mußte ich mit in ein Lager in die Catskills. Wir lebten da in Zelten und gruben uns ein Loch als Toilette. Wir bauten eine Seilbrücke, und eines der Mädchen fiel herunter, die Tochter unseres Nachbarn. Ich hatte sie immer gehaßt. Sie war eine schlechte Schülerin, aber sie war geschickt mit den Händen und half meinem Vater oft im Garten. Er behandelte sie, als sei sie seine Tochter, und sagte immer, so ein Mädchen hätte er gerne gehabt. Wir glaubten zuerst, der Sturz habe ihr nichts gemacht. Jennifer hieß sie. Dann, nach zwei oder drei Tagen, lag sie am Morgen einfach tot im Zelt. Es war grauenhaft. Alle schrien, und eine der Leiterinnen mußte zu Fuß zum nächsten Dorf. Dann kamen Männer mit einer Tragbahre und brachten Jennifer weg. Und wir fuhren mit dem Bus zurück, und den ganzen Weg heulten die anderen. Nur ich nicht. Ich war nicht froh, daß Jennifer gestorben war, aber ich war auch nicht traurig. Und ich freute mich, daß ich heim durfte. Nachher waren alle wütend auf mich, als habe ich sie umgebracht. Mein Vater war am schlimmsten. Ich hatte ihn nie vorher weinen sehen. Ich glaube, er hätte weniger geweint oder gar nicht, wenn ich gestorben wäre.«
7
Ich fuhr für fünf Tage nach New York, um mir einige Bücher zu beschaffen, die ich in Chicago nicht hatte finden können. Seit ich Agnes kannte, arbeitete ich wieder intensiver. Allein zu wissen, daß sie da war, daß ich sie treffen würde, trieb mich voran. Obwohl ich über Luxuseisenbahnwagen schrieb, hatte ich aus Sparsamkeit einen Sitzplatz zweiter Klasse gebucht. Der Nachtzug war fast voll, und ich war froh, daß der Platz neben mir leer blieb. Aber schon beim zweiten Halt, in South Bend, setzte sich eine unförmig dicke Frau neben mich. Sie trug einen dünnen Strickpullover mit aufgesticktem Nikolaus und roch nach altem saurem Schweiß. Ihr weiches Fleisch quoll über die Armlehne zwischen uns, und so sehr ich mich auch gegen die Seitenwand des Wagens drückte, war es mir nicht möglich, ihrer Berührung auszuweichen. Ich stand auf und ging in den Barwagen weiter vorn im Zug.
Ich trank ein Bier. Draußen wurde es langsam dunkel. Die Landschaft, durch die wir fuhren, hatte etwas Ungefähres, Ungenaues. Als wir durch einen Wald kamen, konnte ich mir vorstellen, was Agnes gemeint hatte, als sie sagte, man könne in diesen Wäldern spurlos verschwinden. Dann und wann kamen wir an Häusern vorbei, die nicht allein standen und doch kein Dorf bildeten. Auch hier, dachte ich, könnte man verschwinden, ohne jemals wiedergefunden zu werden. Ein junger Mann sprach mich an. Er sei Masseur, erzählte er, und fahre nach Hause zu seinen Eltern in New York. Er erzählte mir von seiner Arbeit, begann dann über Magnetismus und Auraltherapie oder etwas Ähnliches zu reden. Ich stand neben ihm, schaute aus dem Fenster und versuchte, nicht hinzuhören. Als er mir anbot, mich zu einem Freundschaftspreis zu massieren, ging ich in meinen Wagen zurück. Die dicke Frau hatte sich zur Seite gedreht und brauchte noch mehr Platz. Sie war eingeschlafen und atmete hörbar. Ich kletterte über sie hinweg und drückte mich in meinen Sessel. In der Sitztasche vor ihr steckte ein Buch: What Good Girls Don’t Do . Vorsichtig zog ich es heraus und blätterte darin. In der Mitte des Buches fand ich schematische Zeichnungen von Geschlechtsorganen und zwei Diagramme, die laut Legende den Orgasmus des Mannes und jenen der Frau darstellten. Als ich das Buch zurück in die Sitztasche steckte, erwachte die Frau. Sie lächelte mich an und flüsterte: »Ich fahre zu meinem Liebsten.«
Ich nickte, und sie fuhr fort: »Wir haben uns noch nie gesehen. Er ist Algerier. Ich habe ihn durch eine Organisation kennengelernt.«
»Na dann«, sagte ich.
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