Agnes: Roman (German Edition)
Raums um uns wurde spürbar. »In irgendeiner Form leben wir alle nach unserem Tod weiter. In der Erinnerung anderer Menschen, von unseren Kindern. Und in dem, was wir geschaffen haben.«
»Schreibst du deshalb Bücher? Weil du keine Kinder hast?«
»Ich will nicht ewig leben. Im Gegenteil. Ich möchte keine Spuren hinterlassen.«
»Doch«, sagte Agnes.
»Komm«, sagte ich, »gehen wir zurück ins Bett. Es ist noch zu früh.«
6
Als ich wieder erwachte, war es schon fast Mittag. Agnes schlief noch. Sie lag auf dem Rücken und hatte die Decke bis zur Nase hochgezogen. Als ich aufstand, wurde sie wach, und als ich unter der Dusche stand, kam sie ins Badezimmer, lehnte sich an das Waschbecken und sagte: »Ich kann gar nicht glauben, was wir diese Nacht gemacht haben, dabei machen es jede Sekunde Millionen von Menschen überall auf der Weit.«
Agnes schloß sich im Badezimmer ein, um zu duschen. Als sie fertig angekleidet herauskam, fragte ich sie, ob sie sich vor mir schäme.
»Nein«, sagte sie, »ich schließe immer ab, auch wenn ich allein zu Hause bin. Bei meinen Eltern gab es keinen Badezimmerschlüssel. Manchmal sind sie auf die Toilette gegangen, während ich duschte.«
Ich rasierte mich, und Agnes ging nach unten in den Laden, um Toastbrot und Orangensaft zu kaufen.
»Der Verkäufer hat mich angestarrt«, sagte sie, als sie zurückkam. »Er muß sich daran erinnert haben, daß er uns beide gestern abend zusammen gesehen hat. Als ich bezahlt habe, hat er sich die Lippen geleckt und mir zugeblinzelt.«
Ich kochte Kaffee und Eier und toastete das weiche Brot. Beim Frühstück fragte Agnes nach meinen Büchern. Ich zeigte sie ihr. Sie blätterte in ihnen und meinte, es sei schade, daß sie kein Deutsch verstünde.
»Zigarren und Fahrräder interessieren dich bestimmt brennend«, sagte ich.
»Ich würde gern lesen können, wie du schreibst. Die Sätze sind lang, nicht wahr?«
Ich schämte mich ein wenig für die magere Ausbeute meines bisherigen Lebens. Ich zeigte Agnes ein kleines Buch mit Kurzgeschichten, das ich vor vielen Jahren veröffentlicht hatte, und erzählte ihr von einigen literarischen Projekten, die ich in der Schublade hätte. Tatsächlich hatte ich vor Jahren einen Roman zu schreiben angefangen, war aber nie über die ersten fünfzig Seiten hinausgekommen. Agnes bat mich, daß ich ihr die Geschichte erzähle, und während ich versuchte, das wenige, woran ich mich noch erinnerte, zusammenzufassen, kam es mir plötzlich lächerlich vor, in meinem Alter noch solche Ideen zu haben.
»Ich schreibe nicht mehr daran«, sagte ich, »seit Jahren nicht mehr. Man muß sich irgendwann klar werden …«
»Du hättest nicht aufgeben sollen, der Anfang klingt interessant.«
»Ich habe es nie geschafft, meine Stoffe zu beherrschen. Es blieb immer alles künstlich. Ich habe mich an meinen eigenen Worten berauscht. Es war, wie wenn man singt und nicht mehr auf die Worte hört, nur noch auf die Melodie. Wie in diesen italienischen Opern, die niemand versteht.«
Wir aßen schweigend.
»Warum hast du deine Bücher mit nach Chicago genommen?« fragte Agnes. »Liest du in ihnen?«
»Nein, ich schaue sie nie an. Selten.«
»Weißt du noch alles, was darin steht? Verstehst du etwas von Zigarren?«
»So ungefähr. Wenn ich die Bücher in die Hand nehme, dann nicht, um etwas nachzulesen. Sie erinnern mich an die Zeit, in der ich sie geschrieben habe. Sie sind eine Art verschlüsseltes Gedächtnis. Bei Luxuseisenbahnwagen werde ich immer an dich denken und an Chicago.«
»Das klingt, als hätten wir uns schon getrennt.«
»Nein, verzeih, so habe ich das nicht gemeint.«
»Meine Dissertation wird auch in die Bibliothek kommen«, sagte Agnes. »Ich mag den Gedanken, daß alle, die sich irgendwann mit den Symmetrien der Symmetriegruppen befassen, auf meinen Namen stoßen werden.«
Wir gingen zusammen zur Bibliothek.
»Kennst du Stonehenge?« fragte Agnes unterwegs.
»Ich war einmal da«, sagte ich. »Es war schrecklich. Eine Autostraße führt direkt daran vorbei, und das ganze Gelände ist ein riesiger Rummelplatz. Die Steine sieht man kaum vor lauter Souvenirständen.«
»Ich war nie da, aber ich habe eine Theorie gelesen. Von einer Frau. Den Namen habe ich vergessen. Sie meint, die Steine hätten keine astrologische oder mythologische Bedeutung, sondern seien von den prähistorischen Menschen aufgestellt worden, nur um eine Spur zu hinterlassen, ein Zeichen zu setzen. Weil sie sich fürchteten, in
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