Agnes: Roman (German Edition)
außen wanderten. Als Agnes die Maus berührte, erschien wieder ihre Geschichte. Sie drückte ein paar Tasten, und der Text verschwand.
»Was machst du?« fragte ich.
»Ich habe ihn gelöscht«, sagte sie, »vergessen. Gehen wir spazieren?«
Wir gingen durch das Viertel. Es hatte aufgehört zu regnen, aber die Straßen waren noch naß. Agnes zeigte mir, wo sie ihre Lebensmittel einkaufte, wo sie ihre Wäsche wusch, das Restaurant, wo sie oft zu Abend aß. Ich versuchte, mir vorzustellen, wie es war, in diesen Straßen zu Hause zu sein, aber es gelang mir nicht.
Agnes sagte, sie wohne gern hier, sie fühle sich wohl in diesem Viertel, auch wenn es nicht besonders schön sei und obwohl sie niemanden kenne. Als wir in ihre Wohnung zurückkehrten, holte sie aus einem Schrank einen Stapel kleiner trüber Glasplatten.
»Das ist meine Arbeit«, sagte sie.
Auf den ersten Blick schienen die Platten gleichmäßig trübe zu sein, aber als ich genauer hinschaute, sah ich im grauen Nebel winzige Punkte in regelmäßigen Abständen. Auf jeder Platte bildeten die Punkte andere Muster.
»Das sind Röntgenbilder von Kristallgittern«, sagte Agnes. »Die wirklichen Anordnungen der Atome. Ganz tief in fast allem ist Symmetrie.«
Ich gab ihr die Platten zurück. Sie trat ans Fenster und hielt sie einzeln gegen das Licht.
»Das Geheimnisvolle ist die Leere in der Mitte«, sagte sie, »das, was man nicht sieht, die Symmetrieachsen.«
»Aber was hat das mit uns zu tun?« fragte ich. »Mit dem Leben, mit dir und mir? Wir sind asymmetrisch.«
»Asymmetrien haben immer einen Grund«, sagte Agnes. »Es ist die Asymmetrie, die das Leben überhaupt erst möglich macht. Der Unterschied zwischen den Geschlechtern. Daß die Zeit nur in eine Richtung läuft. Asymmetrien haben immer einen Grund und eine Wirkung.«
Ich hatte Agnes noch nie mit so viel Begeisterung reden gehört. Ich umarmte sie. Sie hielt die Diapositive schützend in die Höhe und sagte: »Paß auf, sie sind zerbrechlich.«
Trotz ihrer Warnung nahm ich Agnes auf die Arme und trug sie zur Matratze. Sie stand noch einmal auf, um die Bilder in Sicherheit zu bringen, aber dann kam sie zurück, zog sich aus und legte sich neben mich. Wir liebten uns, und dann war es draußen dunkel geworden. Ich blieb die Nacht über bei ihr.
Gegen Morgen weckten mich Klopfgeräusche in den Heizungsrohren. Ich richtete mich auf und sah, daß auch Agnes wach war.
»Da gibt jemand Klopfsignale«, sagte ich.
»Das ist eine Dampfheizung, keine Klimaanlage wie bei dir. Die Rohre dehnen sich durch die Hitze aus und machen diese Geräusche.«
»Stört dich das nicht? Bei dem Lärm kann man ja nicht schlafen.«
»Nein, im Gegenteil«, sagte Agnes. »Es gibt mir das Gefühl, nicht allein zu sein, wenn ich nachts aufwache.«
»Du bist nicht allein.«
»Nein«, sagte Agnes, »jetzt nicht.«
9
»Ich habe nachgedacht«, sagte Agnes, als wir uns einige Tage später wieder trafen. Es war der Abend des dritten Juli, und wir spazierten am Ufer des Lake Michigan entlang. In Chicago beginnt die Feier zum Unabhängigkeitstag bereits am Vorabend mit Feuerwerk und Musik. Im Grant Park hatte es von Menschen gewimmelt, aber hier, etwas weiter nördlich, war die Uferpromenade fast leer. Wir setzten uns auf die Kaimauer und schauten hinaus auf den See.
»Warum hast du aufgehört zu schreiben«, fragte Agnes, »richtig zu schreiben?«
»Ich weiß nicht. Ich hatte nichts zu sagen. Oder ich war nicht gut genug. Ich habe einfach irgendwann aufgehört.«
»Hast du keine Lust, wieder anzufangen?«
»Lust? Lust reicht nicht … Warum fragst du? Möchtest du einen berühmten Freund?«
»Freund«, sagte Agnes, »das klingt seltsam.« Sie zog die Beine hoch und stützte das Kinn auf die Knie.
»Ich hatte das Gefühl, du warst eifersüchtig, als ich dir meine Geschichte gezeigt habe.«
»Es tut mir leid, wirklich, ich war nicht gerecht. Ich habe mich geärgert.«
»Schon gut. Du hast mir doch dieses Buch mit Kurzgeschichten gezeigt.«
»Das Buch wurde hundertsiebenundachtzigmal verkauft.«
»Das spielt keine Rolle. Aber du kannst Geschichten schreiben. Komm, wir gehen heim.«
Als wir aufstanden und zurückgingen, hatte es schon zu dämmern begonnen. Die Wolkenkratzer der Innenstadt verschmolzen im Gegenlicht miteinander und wirkten wie ein einziges riesiges Gebäude, wie eine dunkle Burg.
Unten am Strand hatte eine Gruppe von Hispanics, vielleicht eine Familie, ein Feuer angezündet und feierte. Agnes nahm
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