Akte Atlantis
geschützt, doch um ihr Gesicht machte sie sich Sorgen.
Beim geringsten Kribbeln an Nase oder Wangen rieb und rubbelte sie, damit die Partie wieder gut durchblutet wurde. Sie hatte miterlebt, wie sechs Seeleute aus der Besatzung ihres Mannes Erfrierungen erlitten hatten – zwei hatten dabei mehrere Zehen eingebüßt, einer die Ohren.
Gottlob ließ der eisige Wind nach. Der Sturm flaute ab, und sie kam nun leichter voran als in der ganzen letzten Stunde, in der sie ohne jede Orientierung immer weiter marschiert war. Der Wind heulte ihr nicht mehr um die Ohren, sodass sie jetzt hören konnte, wie die Eisdecke unter ihren Füßen knirschte.
Sie stieß auf eine Bodenerhebung, einen kleinen Hügel, allenfalls vier, fünf Meter hoch, der durch das ewig mahlende Packeis entstanden war, aufgetürmt aus geborstenen Schollen, die sich übereinander geschoben hatten. Zumeist waren diese Hügel schartig und ausgezackt, doch den hier hatten der Wind und das Wetter abgeschmirgelt. Auf allen vieren kletterte sie nach oben, krallte sich im blanken Eis fest, rutschte wieder ab und zog sich dennoch Meter um Meter hoch.
Roxanna musste ihre letzten Kräfte aufbieten. Sie wusste hinterher nicht mehr, wie sie es geschafft hatte, doch sie schleppte sich bis zur Kuppe hinauf, zu Tode erschöpft, mühsam um Atem ringend und mit hämmerndem Herz. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie da oben lag, aber sie war dankbar darum, dass ihr der Wind nicht mehr fortwährend Eiskristalle in die Augen trieb. Nach ein paar Minuten, als ihr Puls wieder langsamer ging und ihr Atem ruhiger, verwünschte sich Roxanna, weil sie sich aus lauter Leichtsinn selbst in Not gebracht hatte. Sie hatte jedes Zeitgefühl verloren. Eine Uhr hatte sie nicht dabei, daher wusste sie nicht, wie viele Stunden schon vergangen waren, seit sie die
Paloverde
, das Walfangschiff ihres Mannes verlassen hatte.
Nahezu sechs Monate war es jetzt her, seit das Schiff im Packeis eingeschlossen worden war, und um der Langeweile an Bord zu entrinnen, brach sie jeden Tag zu Erkundungsmärschen in die nähere Umgebung auf, immer in Sichtweite des Schiffes und seiner Besatzung, die sie im Auge behielt. Der Himmel war kristallklar gewesen, als sie an diesem Morgen losgezogen war, doch bald darauf hatte er sich verdunkelt und hinter den Eiswolken verborgen, die der Wind vor sich her peitschte. Ehe Roxanna sich versah, war das Schiff verschwunden, und seither irrte sie über das endlose Packeis.
An Bord eines Walfangschiffes gab es normalerweise keine Frauen.
Aber manchmal hatten die Frauen keine Lust, allein zu Hause zu sitzen, während der Herr Gemahl drei, vier Jahre lang unterwegs war.
Roxanna Mender jedenfalls stand der Sinn nicht nach endlosen einsamen Stunden. Sie war eine zähe Person, wenngleich zierlich, brachte sie doch allenfalls fünfzig Kilogramm auf die Waage und war nur einen Meter fünfzig groß. Sie war hübsch anzuschauen mit ihren hellbraunen Augen, sie lächelte gern, und außerdem klagte sie so gut wie nie über das mühselige und ewig gleichförmige Leben an Bord, und seekrank wurde sie auch nicht. In ihrer engen Kabine hatte sie bereits einen Sohn zur Welt gebracht, den sie auf den Namen Samuel getauft hatte. Und jetzt war sie wieder schwanger, im zweiten Monat schon, auch wenn sie ihrem Mann bislang nichts davon verraten hatte. Sie war mittlerweile von der Besatzung anerkannt, hatte etlichen Männern an Bord das Lesen beigebracht, für andere Briefe verfasst, die sie nach Hause, an ihre Frauen und Angehörigen schicken wollten, und sie war fürsorglich eingesprungen, wenn jemand verletzt oder krank geworden war.
Die
Paloverde
gehörte zu einer Flotte von Walfangschiffen, die von San Francisco an der Westküste der Vereinigten Staaten aus in See stachen. Sie war ein robustes Schiff, eigens gebaut für den Walfang in polaren Gewässern. Bei einer Länge von vierzig Metern, einer Breite von neun Metern und einem Tiefgang von fünf Metern hatte sie eine Tonnage von annähernd dreihundertdreißig Bruttoregistertonnen. Auf Grund ihrer Ausmaße konnte sie große Mengen Walfischtran zuladen und verfügte über genügend Quartiere für eine vielköpfige Besatzung, Offiziere wie Mannschaften, die mit ihr auf Fahrt gingen, mitunter bis zu drei Jahre lang. Der Kiel wie auch die Spanten und Decksbalken bestanden aus Kiefernholz aus den Bergwäldern der Sierra Nevada.
Die drei Zoll starken Planken waren mittels langer, für gewöhnlich aus Eiche gefertigter Holznägel
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