Akte Atlantis
war mehr als fraglich.
Zudem drohten ihnen allerhand tödliche Krankheiten. Bei sieben Männern waren bereits erste Anzeichen von Skorbut festgestellt worden.
Das einzig Angenehme war, dass die Ratten und sämtliches andere Ungeziefer vor lauter Kälte längst umgekommen waren.
Doch in der Einsamkeit der langen antarktischen Nacht, während der Wind um das Schiff heulte, wurden die Männer zusehends teilnahmsloser. Mender ließ sich immer neue Aufgaben für seine Besatzung einfallen, hielt sie ständig auf Trab, damit sie geistig wie körperlich fortwährend gefordert wurden.
Mender saß in seiner Kajüte und rechnete gerade ein weiteres Mal durch, wie es um ihre Überlebenschancen bestellt war. Aber wie er es auch drehte und wendete, letztlich lief es immer auf das Gleic he hinaus: Die Aussichten, dass sie im Frühjahr unbeschadet aus dem Eis freikamen und wieder in offenes Fahrwasser fanden, waren verschwindend gering.
Der eisige Sturm hatte ebenso unverhofft aufgehört, wie er eingesetzt hatte, und die Sonne schien wieder. Roxanna sah ihren Schatten, als sie mit zusammengekniffenen Augen über das gleißende Packeis hinwegblickte.
Wie angenehm, dass sie in der endlosen Leere ringsum wenigstens ihren Schatten sah. Doch dann stockte ihr das Herz, als sie den Horizont absuchte und die
Paloverde
in gut zweieinhalb Kilometern Entfernung entdeckte. Der dunkle Rumpf war nahezu vom Eis verborgen, aber sie konnte die riesige amerikanische Flagge erkennen, die im abflauenden Wind wehte, und ihr wurde klar, dass ihr besorgter Mann sie eigens hoch oben am Hauptmast hatte hissen lassen, um ihr einen Anhaltspunkt zu geben. Sie konnte kaum glauben, dass sie so weit vom Weg abgekommen war. In ihrer Benommenheit hatte sie gemeint, sie wäre wenigstens halbwegs in der Nähe des Schiffes geblieben, während sie im Kreis gelaufen war.
Das Packeis war gar nicht so einsam und verlassen, wie sie gedacht hatte. Roxanna bemerkte winzige Punkte, die sich darauf fortbewegten, und ihr wurde klar, dass es sich um ihren Mann und seine Besatzungsmitglieder handelte, die nach ihr suchten. Sie wollte sich gerade recken und ihnen zuwinken, als ihr plötzlich etwas auffiel, mit dem sie zuallerletzt gerechnet hatte – die Masten eines anderen Schiffes, die zwischen zwei riesigen Eisbergen aufragten, übereinander getürmten Schollen, die zusammengefroren und gestrandet waren.
Die drei Masten, der Bugspriet und die Takelage waren allem Anschein nach unbeschädigt, die Segel eingerollt. Da der Wind nunmehr zu einer leichten Brise abgeflaut war, nahm sie den Schal ab, den sie um Gesicht und Augen geschlungen hatte, und jetzt sah sie, dass der Großteil des Schiffsrumpfes im Eis festsaß. Roxannas Vater war Kapitän gewesen und hatte etliche schnelle Klipper befehligt, die im Teehandel mit China verkehrt waren, daher hatte sie als junges Mädchen tausende von Schiffen mit unterschiedlichster Takelage und Besegelung zu Gesicht bekommen, die den Hafen von Boston anliefen. Ein Schiff wie dieses eisverkrustete hier hatte sie bislang nur einmal gesehen – auf einem Gemälde, das im Haus ihres Großvaters hing.
Das gespenstische Schiff war alt, uralt, hatte ein mächtiges, abgerundetes Heck mit einer ausladenden, mit Fenstern versehenen Galerie.
Es war lang, schmal und tief gebaut. Gut fünfundvierzig Meter lang und mindestens zehn Meter breit, schätzte Roxanna.
Genau wie das Schiff auf dem Gemälde. Das hier musste ein achthundert Tonnen schwerer britischer Ostindienfahrer aus dem späten achtzehnten Jahrhundert sein.
Sie wandte sich von dem Schiff ab und wedelte mit ihrem Schal, um ihren Mann und die Besatzung auf sich aufmerksam zu machen. Einer nahm die Bewegung aus dem Augenwinkel wahr und wies die anderen darauf hin. Im Nu kamen sie über das rissige Eis auf sie zu gerannt, allen voran Kapitän Mender.
Zwanzig Minuten später waren die Besatzungs mitglieder der
Paloverde
bei ihr und freuten sich lauthals darüber, dass sie noch am Leben war.
Mender, normalerweise ein ruhiger, zurückhaltender Mensch, zeigte sich ungewöhnlich bewegt, als er Roxanna in die Arme schloss und sie lange und liebevoll küsste. An seinen Wangen hingen gefrorene Tränen. »O mein Gott!«, murmelte er. »Ich dachte, du wärst tot. Es ist das reinste Wunder, dass du überlebt hast.«
Bradford Mender, bereits mit achtundzwanzig Kapitän eines Walfängers geworden, war sechsunddreißig Jahre alt und befand sich auf seiner zehnten großen Fahrt, als sein Schiff im
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