Akte Atlantis
verblichene Besatzung. Die Kanonen standen an den Stückpforten, die Rettungsboote waren auf den Ersatzspieren vertäut, sämtliche Luken ordentlich gesichert.
Das alte Schiff hatte etwas Unheimliches und erschreckend Befremdliches an sich, eine eigenartig unwirkliche Trostlosigkeit. Die an Deck stehenden Besatzungsmitglieder wurden von einer unerklärlichen Angst gepackt, dass irgendwo eine fahle, grausige Kreatur ihrer harrte.
Seeleute sind abergläubisch, und mit Ausnahme von Roxanna, die von einer beinahe mädchenhaften Begeisterung erfasst war, empfanden sie alle eine düstere Vorahnung.
»Seltsam«, sagte Bigelow. »Es sieht so aus, als hätte die Besatzung das Schiff verlassen, bevor es im Eis stecken geblieben ist.«
»Das bezweifle ich«, erwiderte Mender grimmig. »Die Rettungsboote sind noch vertäut.«
»Gott allein weiß, was wir unter Deck vorfinden.«
»Dann schauen wir doch nach«, rief Roxanna aufgeregt.
»Du nicht, meine Liebe. Ich glaube, es ist besser, wenn du hier bleibst.«
Sie warf ihrem Mann einen stolzen Blick zu und schüttelte langsam den Kopf. »Ich bleibe nicht allein und warte auf die Gespenster, die hier umgehen.«
»Wenn es hier Gespenster gibt«, versetzte Bigelow, »sind sie längst stocksteif gefroren.«
Mender erteilte seinen Männern die entsprechenden Befehle.
»Wir teilen uns in zwei Gruppen auf. Mr. Bigelow, Sie nehmen sich drei Mann und schauen in den Mannschaftsunterkünften und im Frachtraum nach. Wir andern gehen nach achtern und durchsuchen die Passagierkabinen und die Offiziersquartiere.«
Bigelow nickte. »Aye, Käpt’n.«
Ein Berg aus Schnee und Eis hatte sich rund um die Tür aufgetürmt, die zu den Heckkajüten führte, daher stiegen Mender, Roxanna und die übrigen Männer auf das Poopdeck, wo sie ihre ganze Kraft aufwenden mussten, um die festgefrorene Luke über dem Niedergang anzuheben. Sie legten sie beiseite und stiegen vorsichtig die Treppe hinab. Roxanna ging unmittelbar hinter Mender und hielt sich am Gürtel seines schweren Mantels fest. Ihr normalerweise bleiches Gesicht war vor Aufregung und Anspannung gerötet.
Sie ahnte nicht, welcher Albtraum sie dort unten erwartete.
An der Tür zur Kapitänskajüte stießen sie auf einen riesigen deutschen Schäferhund, der zusammengerollt auf einem Läufer lag. Roxanna kam es so vor, als schliefe der Hund, doch der dumpfe Ton, den er von sich gab, als Mender ihn mit der Stiefelspitze anstieß, verriet ihnen, dass er steif gefroren war.
»Buchstäblich hart wie Stein«, sagte Mender.
»Armer Kerl«, murmelte Roxanna betroffen.
Mender deutete mit dem Kopf zu der verschlossenen Tür am hinteren Ende des Gangs. »Die Kapitänskajüte. Mir graut beim bloßen Gedanken daran, was wir dort vorfinden.«
»Womöglich gar nichts«, sagte einer der Männer beklommen.
»Vermutlich haben alle das Schiff verlassen und sind die Küste entlang nach Norden gezogen.«
Roxanna schüttelte den Kopf. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand ein so herrliches Tier seinem Schicksal überlässt.«
Die Männer drückten die Tür zur Kapitänskajüte auf und traten ein, mitten hinein in das Grauen. Eine Frau, gekleidet nach der Mode des späten achtzehnten Jahrhunderts, saß auf einem Stuhl und starrte mit weit aufgerissenen dunklen Augen in tiefer Trauer auf ein Kleinkind, das in seiner Wiege lag. Sie war allem Anschein nach erfroren, während sie sich noch darüber grämte, dass sie ihre Tochter verloren hatte.
Sie hatte eine offene Bibel auf dem Schoß, die bei den Psalmen aufgeschlagen war.
Roxanna und die Männer von der
Paloverde
waren von dem Anblick wie benommen. Ihre Begeisterung war mit einem Mal verflogen, ihre Entdeckungslust tiefem Schmerz gewichen.
Schweigend standen sie und die anderen da und wagten kaum zu atmen, als sie sahen, wie ihre Hauchschwaden durch die eisige Gruft trieben.
Mender drehte sich um und ging in eine angrenzende Kajüte, wo er den Kapitän des Schiffes und vermutlichen Ehemann der toten Frau fand. Zusammengesunken saß er an seinem Schreibtisch, die roten Haare von einer Eisschicht überzogen, das Gesicht totenbleich. In der einen Hand hielt er noch den Federkiel. Ein Blatt Papier lag vor ihm.
Mender wischte den Reif weg und las, was dort stand.
26. AUGUST 1779
Fünf Monate ist es nun her, seit wir an diesem verfluchten Gestade gefangen wurden, nachdem uns der Sturm weitab vom Kurs gen Süden getrieben hatte. Keine Verpflegung mehr. Seit zehn Tagen
hat niemand mehr gegessen.
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