Akte X
Flächen voller Stümpfe hinterlassen hatten, die die Berghänge wie Schorf überzogen.
Dieses Blockhaus hatte als private Zuflucht dienen sollen, ein abgelegenes Ferienhaus zur Erholung in der Einsamkeit. Darin hatte sich geweigert, Telefon installieren zu lassen oder eine Briefkasten anzubringen. Sie hatten mit niemandem über das Blockhaus geredet, niemand kannte es. Jetzt war die Isolation wie eine schützende Festungsmauer. Niemand wußte, daß sie hier waren. Niemand würde sie hier draußen jemals finden.
Ein kleines, zweimotoriges Flugzeug brummte über sie hinweg, ein kaum erkennbarer, ziellos hin und her kurvender Punkt am Himmel; das Brummen verklang, als es außer Sichtweite verschwand.
Ihr Unglück erfüllte Patrice jeden Tag mit neuem Entsetzen, lahmte ihre Kräfte. Jody, der so tapfer war, daß es ihr jedesmal das Herz zerriß, wenn sie an ihn dachte, hatte bereits so viel durchmachen müssen, die Verfolgung, der Überfall... und davor die Diagnose des Arztes—unheilbarer Krebs, Leukämie, nicht mehr lange zu leben. Es war wie eine herunterfallende Guillotine, die auf ihren Nacken zielte.
Nach dieser Diagnose - was konnten ihnen unbekannte Verschwörer Schlimmeres antun? Gab es irgend etwas, das den Dämon in Jodys zwölf Jahre altem Körper übertraf? Jede andere Grausamkeit mußte daneben verblassen.
Als der Tennisball vom Blockhaus abprallte und im kniehohen Unkraut verschwand, flitzte Jody hinterher. Sie trat an den Seitenrand des Fensters und folgte ihm mit den Blicken. Seit dem Feuer und dem Überfall achtete Patrice darauf, ihn nie aus den Augen zu verlieren.
Der Junge wirkte jetzt viel gesünder. Patrice wußte nicht, ob sie ihren Mann für das, was er getan hatte, verfluchen oder ihm danken sollte.
Ein wenig lustlos schlug Jody wieder den Tennisball gegen die Wand und rannte ihm erneut hinterher. Er hatte einen wichtigen Schritt in seiner Entwicklung getan - ihre Krisensituation war nach anderthalb Wochen zur Normalität geworden, und die Langeweile hatte seine Furcht verdrängt. Er sah so jung aus, so unbeschwert, trotz allem, was geschehen war...
Zwölf hätte für ihn ein magisches Alter sein sollen, der Beginn der Teenagerzeit, in der pubertätsbedingte Sorgen universelle Bedeutung erlangten. Aber Jody war kein normaler Junge mehr. Es stand immer noch nicht fest, ob er überleben oder sterben würde.
Patrice öffnete die Tür, verbannte den besorgten Ausdruck von ihrem Gesicht und trat auf die Veranda, obwohl sich Jody inzwischen an ihre Besorgnis gewöhnt hatte.
Die graue Wolkendecke über Oregon war für die tägliche Stunde Sonnenschein aufgebrochen. Die Wiese glänzte noch vom Regenguß der vergangenen Nacht, in der sich das Trommeln der Regentropfen wie leise, schleichende Schritte vor dem Fenster angehört hatte. Patrice hatte stundenlang wach dagelegen und die Decke angestarrt. Jetzt warfen die hohen Kiefern und Espen ihre Nachmittagsschatten über die schlammige Auffahrt, die den Hang mit dem fernen Highway verband.
Jody schlug den Tennisball zu hart, und er flog über die Auffahrt, prallte gegen einen Stein und segelte ins hohe Gras. Mit einem wütenden Schrei, der seine innere Anspannung verriet, schleuderte Jody seinen Tennisschläger hinterher und blieb zornbebend stehen.
Impulsiv, dachte Patrice. Jody erinnerte mit jedem Tag mehr und mehr an seinen Vater.
»He, Jody!« rief sie und bemühte sich, nicht allzu vorwurfsvoll zu klingen. Er hob den Schläger auf und kam mit gesenkten Augen auf sie zugetrottet. Er war schon den ganzen Tag unruhig und niedergeschlagen gewesen. »Was ist los mit dir?«
Jody wich ihrem Blick aus und blinzelte statt dessen ins Sonnenlicht, das durch die dichten Kiefern fiel. In weiter Ferne hörte sie das tiefe Brummen eines schwerbeladenen Holztransporters, der auf der anderen Seite der Baumbarrikade den Highway hinunter rumpelte.
»Es ist wegen Vader«, antwortete er schließlich und blickte verständnisheischend seine Mutter an. »Er ist gestern nicht zurückgekommen, und ich habe ihn den ganzen Morgen über nicht gesehen.« Jetzt verstand Patrice, und ihr fiel ein Stein vom Herzen. Für einen Moment hatte sie befürchtet, daß er einen Fremden gesehen oder etwas über sie in den Radionachrichten gehört hatte. »Warte einfach noch ein Weilchen. Dein Hund wird schon gesund zurückkommen - er kommt immer zurück.«
Vader und Jody waren etwa gleich alt und ihr ganzes Leben lang unzertrennlich gewesen. Trotz ihrer Sorgen lächelte
Weitere Kostenlose Bücher