Akte X
Patrice bei dem Gedanken an den klugen und gutmütigen schwarzen Labrador.
Vor elf Jahren war die Welt noch in Ordnung gewesen. Ihr einjähriger Sohn krabbelte in seinen Windeln auf dem Hartholzfußboden herum. Er hatte seine Action-Spielzeugfiguren beiseite geworfen und statt dessen mit dem Hund gespielt. Der Junge konnte »Ma« und »Pa« sagen und versuchte sich sogar an »Vader«, dem Namen des Hundes, obwohl er nur ein undeutliches »drrrr« hervorbrachte.
Patrice und David hatten lachend mit verfolgt, wie der schwarze Labrador mit Jody spielte. Vader war hin und her gesprungen und mit seinen Pfoten über den polierten
Boden gerutscht. Jody hatte vor Vergnügen gequietscht, Vader gebellt und das Baby umkreist, das versuchte, sich auf seinen Windeln zu drehen.
Es waren friedliche Zeiten gewesen, glückliche Zeiten. Doch seit jener schicksalhaften Nacht, in der sie einen verzweifelten Anruf von ihrem Mann aus seinem belagerten Laboratorium erhalten hatte, war ihr nicht eine Minute des inneren Friedens vergönnt gewesen.
Bis dahin war der schlimmste Moment in ihrem Leben der gewesen, als sie erfahren hatte, daß ihr Sohn an Krebs sterben würde.
»Aber was ist, wenn Vader verletzt im Straßengraben liegt, irgendwo da draußen?« fragte Jody. Sie konnte erkennen, daß er mit den Tränen kämpfte. »Was ist, wenn er in eine Bärenfalle getappt ist oder von einem Jäger angeschossen wurde?«
Patrice schüttelte beruhigend den Kopf. »Vader wird schon gesund und munter zurückkommen. Das macht er doch immer.«
Erneut spürte Patrice dieses Frösteln. Ja, Vader kommt immer zurück.
8 Mercy Hospital, Portland, Oregon Dienstag, 14:24 Uhr
Selbst durch das dicke Material ihrer unförmigen Handschuhe konnte sie die schlüpfrige Glätte im Brustkorb der Leiche spüren. Scullys Bewegungen waren irritierend plump und ungenau — aber zumindest schützte der schwere Anzug sie vor dem, was Vernon Ruckman umgebracht hatte.
Das schwere Preßluftgerät pumpte ihr kalten, schalen Wind ins Gesicht. Ihre Augen waren trocken und brannten. Sie wünschte, sie kurz reiben zu können, aber da sie den Schutzanzug trug, mußte sie das Brennen erdulden, bis die Autopsie des toten Nachtwächters abgeschlossen war.
Ihr Tonbandgerät stand auf einem Tisch und wartete darauf, von ihrer Stimme aktiviert zu werden und ihre detaillierte Schilderung des Befundes aufzunehmen. Allerdings war dies keine normale Autopsie. Auf den ersten Blick hatte sie Dutzende von verwirrenden körperlichen Anomalien bemerkt, und das Rätsel um die grausigen Manifestationen der Symptome wurde im Lauf der gründlichen Untersuchung immer mysteriöser.
Dennoch gab es einen guten Grund dafür, die Untersuchung des Toten Schritt für Schritt durchzuführen. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie sie dieses Vorgehen Studenten in Quantico erklärt hatte, während der kurzen Zeit, als man die X-Akten geschlossen und sie und Mulder getrennt hatte. Einige ihrer Studenten hatten inzwischen ihre Ausbildung an der FBI-Trainingsakademie abgeschlossen und waren jetzt - wie sie - Special Agents.
Aber sie bezweifelte, daß einer von ihnen je vor einem solchen Fall stehen würde.
In einer derartigen Situation war Routine die einzige Möglichkeit für sie, einen klaren Kopf zu bewahren.
Erster Schritt. »Test«, sagte sie, und die rote Diode an dem stimmgesteuerten Recorder erlosch. Sie sprach mit normaler Stimme weiter, die durch ihre transparente Helmscheibe aus Plastik leicht gedämpft wurde.
»Name der Person: Vernon Ruckman. Alter 32, Gewicht ungefähr 185 Pfund. Der allgemeine äußere körperliche Zustand ist gut. Er scheint völlig gesund gewesen zu sein, bis ihn diese Krankheit tötete.« Nun sah er so aus, als hätten alle Zellen in seinem Körper gleichzeitig verrückt gespielt.
Sie betrachtete den fleckigen Körper des Mannes, die dunkelroten Ergüsse aus teerähnlichem Blut unter seiner Haut. Das Gesicht des Mannes war zu einer schmerzverzerrten, zähnebleckenden Maske erstarrt.
»Glücklicherweise haben die Leute, die diese Leiche fanden, und der Gerichtsmediziner umgehend die nötigen Quarantänemaßnahmen ergriffen. Niemand hat diese Leiche mit ungeschützten Händen berührt. Ich vermute, daß diese Krankheit - um was immer es sich dabei auch handeln mag - extrem ansteckend ist.
Die äußeren Symptome - Flecken, Schwellungen unter der Haut - erinnern mich an die Beulenpest. Doch der Schwarze Tod, der im Mittelalter bis zu neun Zehntel der
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