Akunin, Boris - Pelagia 01
etlichen Jahren hat im Kirchdorf Rytschalowka, hundertzwanzig Werst von Sawolshsk, ein Küster sich ein Hebezeug ausgedacht, um leichter auf den Glockenturm zu kommen. Er mochte nicht mehr tagaus, tagein achtzig steile Stufen rauf – und runtersteigen. Darum hängte er einen Stuhl mit Lehne an ein verlängertes Pferdegeschirr, verband es mit Hebeln und Antriebsrädern, und was meint ihr – er war in zwei Minuten oben. Der Bischof persönlich reiste an, um das Wunder zu bestaunen. Kopfschüttelnd fuhr er ein – oder zweimal mit dem Wunderstuhl auf und ab, dann befahl er, die Konstruktion wieder abzubauen, denn die Glocke müsse in Demut geläutet werden, unter ehrfürchtigem Keuchen, auch führe so et was die Kinder in Versuchung. Den Küster aber schickte Mitrofani nach Moskau, damit er dort Mechanik studiere, und setzte an dessen Stelle einen Mann mit schlichterem Gemüt. Doch dieses Aufblitzen eines urwüchsigen Genies ist eher die Ausnahme. Wir gestehen offen, dass die Sawolshsker insgesamt schwer von Begriff sind und gegen alles Neue Argwohn hegen.
Auch der derzeitige Gouverneur, Anton Antonowitsch von Gaggenau, wurde bei uns anfangs mit Misstrauen aufgenommen, da er, durchdrungen vom Geist segensreicher Reformen, das ihm anvertraute Gebiet von den Füßen auf den Kopf stellen wollte, jedoch versicherte, er werde es vom Kopf auf die Füße stellen. Doch Gott der Herr bewahrte die Sawolshsker vor übermäßigen Erschütterungen. Der junge Reformer geriet unter den Einfluss Mitrofanis, bezwang seine Hoffart und mäßigte sich, insbesondere nachdem er mit bischöflichem Segen die begeh-renswerteste der hiesigen Bräute geehelicht hatte. Dazu hatte er freilich vom lutheranischen zum orthodoxen Glauben übertreten müssen, und sein geistlicher Vater war niemand anders als der Bischof. Baron von Gaggenau hat sich bei uns so gut eingelebt, dass er, als er für seine beispielhafte Verwaltung des Gouvernements in ein hauptstädtisches Ministerium berufen wurde, dies ablehnte, weil es ihm hier besser gefiel. Er war ein Deutscher, aber ganz aus der Art geschlagen. Früher pflegte er abends aus einem Porzellantässchen Glühwein zu trinken und für sich selbst das Violoncello zu spielen, doch mittlerweile hat er am Moosbeerenschnaps Geschmack gefunden, badet am Dreikönigsfest in einem Eisloch und bleibt hinterher mindestens drei Stunden lang im Schwitzbad.
Und wie es sich für einen richtigen russischen Mann gehört, steht der Gouverneur unterm Pantoffel seiner Frau.
Aber bei einer Person wie Ljudmila Platonowna unterm Pantoffel zu stehen ist angenehm und erfreulich, eine solche Sklaverei erträumen viele. Sie ist eine geborene Tscheremissowa, entstammt also der allerersten Kaufmannsfamilie von Sawolshsk, der schon von Peter dem Großen die Grafenwürde verliehen wurde. Als junges Mädchen war Ljudmila schlank und rank gewesen, doch nachdem sie vier kleine Barone zur Welt gebracht hatte, änderte sich ihre Gestalt und gewann eine dem Blick wohltuende Üppigkeit, die ihre Schönheit noch deutlicher zur Geltung brachte. Mit ihren hellen Augen, rosigen Wangen und vollen Armen wurde die Baronin jenseits der dreißig zum Ideal russischer Frauenschönheit, zu der sich hagere und kahlköpfige Deutsche (Anton von Gaggenau war solch einer) von alters her seelisch und körperlich hingezogen fühlen. Ljudmila erkannte ihre Macht über ihren Gatten sehr bald und machte nach Gutdünken davon Gebrauch, aber dem Gouvernement hat das bislang in keiner Weise geschadet, weil die herzensgute und feinfühlige Frau alle ihre Kräfte für wohltätige und gottgefällige Werke einsetzte, so dass selbst der Bischof ihren Einfluss auf den Gatten als nützlich empfand. Im Zusammenhang mit den letzten Ereignissen freilich sah sich Mitrofani genötigt, sein Urteil über die weibliche Vorherrschaft zu revidieren, aber davon später.
Der wohl einzige Mensch (natürlich mit Ausnahme des Bischofs, dessen Autorität Ljudmila nie in Frage stellte), dessen Einfluss sie trotz aller Bemühungen nicht eindämmen konnte, war der bevollmächtigte Berater des Barons, Matwej Benzionowitsch Berditschewski, der das Amt des stellvertretenden Staatsanwalts beim Gerichtshof bekleidete. Die Geschichte dieses Beamten ist ungewöhnlich und verdient es, etwas ausführlicher erzählt zu werden.
Der einstige Jude Matwej Berditschewski war, wie der Gouverneur, ein Taufsohn Mitrofanis. Bis zu seinem Übertritt zur rechtgläubigen Kirche hatte er den missklingenden
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